Reinhart Koselleck j 153
schiedliche Bedeutung von Begriffen wie Staat, Gesellschaft, Feudalismus im Laufe
der Jahrhunderte klarzumachen, um damit das alteuropäische Sozialgefüge adäqua-
ter, „entmodernisiert“ zu beschreiben.Werner Conze interessierte sich dafür, um den
Strukturwandel zur industriellen Gesellschaft zu erfassen, etwa die Transformation
vom „Pöbel“ zum „Proletariat". Koselleck erkannte besonders starke Bedeutungs-
veränderungen und sprachliche Neuschöpfungen in dem Jahrhundert zwischen
1750 und 1850, das er etwas kryptisch als „Sattelzeit“ bezeichnete. Vielleicht dachte
er dabei an Jacob Burckhardts Ausspruch von den besonders ergiebigen Themen, die
„rittlings auf der Grenzscheide zwischen Mittelalter und neuerer Zeit schweben“. In
dieser Weise wollte er die weit verstreut innerhalb der hundert Jahre erkennbaren
Veränderungen zur modernen Welt auf der Sprachebene fixieren.
1972 bis 1992 wurden in sieben Bänden (mit dem 8. Registerband 1997) die
„Geschichtlichen Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Spra-
che in Deutschland“ von Brunner, Conze und Koselleck veröffentlicht (von denen
aber nach 1986 nur noch Koselleck lebte). Es war ein ungewöhnliches, für ein Lexi-
kon ziemlich kompliziert geplantes Gemeinschaftswerk, mit über hundert Mitarbei-
tern geschaffen, die sich stark für diese neue und so konsequent durchgeführte histo-
rische Sehweise motiviert fühlten, wenn sie auch nicht immer den hohen Anforde-
rungen gerecht wurden und sich viel Korrektur gefallen lassen mußten. Von den
Herausgebern steuerte Brunner nur den Artikel „Feudalismus“ bei, Conze über-
nahm die mehr staats- und sozialgeschichtlich relevanten Begriffe, Koselleck dieje-
nigen, die das sich verändernde Zeitbewußtsein zum Ausdruck brachten, wie
„Geschichte“, „Fortschritt“, „Revolution“. Rückblickend kann man, wie es
Christoph Dipper getan hat, feststellen, daß die „Sattelzeit“ nicht in allen 119 Arti-
keln im Zentrum steht, zumal manche Begriffe (z. B. Antisemitismus oder Faschis-
mus) Neologismen des 19., wenn nicht 20. Jahrhunderts sind. Es mag auch sein, daß
das Interesse an diesem Lexikon nicht mehr so hoch ist wie beim Erscheinen der
ersten Bände. Aber aus der heutigen deutschen Geschichtswissenschaft ist es nicht
mehr wegzudenken. Schon in den Proseminaren wird seither begriffsgeschichtlich
sensibiliert.
Nach einer Professur für Politische Wissenschaft in Bochum (1966-68) war
Koselleck fünf Jahre auf einem Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Heidelberg, dann
aber, während die weiteren Bände der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ erarbeitet
werden mußten, seit 1974 auf dem einzigen westdeutschen Lehrstuhl für Theorie der
Geschichte an der neuen Universität Bielefeld. Er hatte schon zu ihrem Gründungs-
ausschuß gehört und die entsprechende Ausrichtung des Faches Geschichte beein-
flussen können. Und schon 1970 auf dem Kölner Historikertag hatte er die „Theo-
riebedürftigkeit“ der Geschichtswissenschaft besprochen und besonders eine Theo-
rie der „historischen Zeiten“ angemahnt. Das führte er in Bielefeld in dem von ihm
geleiteten „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ aus. Daneben etablierte sich
dort ein anderes sehr gewichtiges Zentrum: das der „kritischen Sozialgeschichte“
(oder „modernen Gesellschaftsgeschichte“) durch die Berufung der beiden führen-
den Vertreter Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka. Eigentlich sollten diese Rich-
tungen in der damals energisch geforderten Erneuerung der deutschen Geschichts-
schiedliche Bedeutung von Begriffen wie Staat, Gesellschaft, Feudalismus im Laufe
der Jahrhunderte klarzumachen, um damit das alteuropäische Sozialgefüge adäqua-
ter, „entmodernisiert“ zu beschreiben.Werner Conze interessierte sich dafür, um den
Strukturwandel zur industriellen Gesellschaft zu erfassen, etwa die Transformation
vom „Pöbel“ zum „Proletariat". Koselleck erkannte besonders starke Bedeutungs-
veränderungen und sprachliche Neuschöpfungen in dem Jahrhundert zwischen
1750 und 1850, das er etwas kryptisch als „Sattelzeit“ bezeichnete. Vielleicht dachte
er dabei an Jacob Burckhardts Ausspruch von den besonders ergiebigen Themen, die
„rittlings auf der Grenzscheide zwischen Mittelalter und neuerer Zeit schweben“. In
dieser Weise wollte er die weit verstreut innerhalb der hundert Jahre erkennbaren
Veränderungen zur modernen Welt auf der Sprachebene fixieren.
1972 bis 1992 wurden in sieben Bänden (mit dem 8. Registerband 1997) die
„Geschichtlichen Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Spra-
che in Deutschland“ von Brunner, Conze und Koselleck veröffentlicht (von denen
aber nach 1986 nur noch Koselleck lebte). Es war ein ungewöhnliches, für ein Lexi-
kon ziemlich kompliziert geplantes Gemeinschaftswerk, mit über hundert Mitarbei-
tern geschaffen, die sich stark für diese neue und so konsequent durchgeführte histo-
rische Sehweise motiviert fühlten, wenn sie auch nicht immer den hohen Anforde-
rungen gerecht wurden und sich viel Korrektur gefallen lassen mußten. Von den
Herausgebern steuerte Brunner nur den Artikel „Feudalismus“ bei, Conze über-
nahm die mehr staats- und sozialgeschichtlich relevanten Begriffe, Koselleck dieje-
nigen, die das sich verändernde Zeitbewußtsein zum Ausdruck brachten, wie
„Geschichte“, „Fortschritt“, „Revolution“. Rückblickend kann man, wie es
Christoph Dipper getan hat, feststellen, daß die „Sattelzeit“ nicht in allen 119 Arti-
keln im Zentrum steht, zumal manche Begriffe (z. B. Antisemitismus oder Faschis-
mus) Neologismen des 19., wenn nicht 20. Jahrhunderts sind. Es mag auch sein, daß
das Interesse an diesem Lexikon nicht mehr so hoch ist wie beim Erscheinen der
ersten Bände. Aber aus der heutigen deutschen Geschichtswissenschaft ist es nicht
mehr wegzudenken. Schon in den Proseminaren wird seither begriffsgeschichtlich
sensibiliert.
Nach einer Professur für Politische Wissenschaft in Bochum (1966-68) war
Koselleck fünf Jahre auf einem Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Heidelberg, dann
aber, während die weiteren Bände der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ erarbeitet
werden mußten, seit 1974 auf dem einzigen westdeutschen Lehrstuhl für Theorie der
Geschichte an der neuen Universität Bielefeld. Er hatte schon zu ihrem Gründungs-
ausschuß gehört und die entsprechende Ausrichtung des Faches Geschichte beein-
flussen können. Und schon 1970 auf dem Kölner Historikertag hatte er die „Theo-
riebedürftigkeit“ der Geschichtswissenschaft besprochen und besonders eine Theo-
rie der „historischen Zeiten“ angemahnt. Das führte er in Bielefeld in dem von ihm
geleiteten „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ aus. Daneben etablierte sich
dort ein anderes sehr gewichtiges Zentrum: das der „kritischen Sozialgeschichte“
(oder „modernen Gesellschaftsgeschichte“) durch die Berufung der beiden führen-
den Vertreter Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka. Eigentlich sollten diese Rich-
tungen in der damals energisch geforderten Erneuerung der deutschen Geschichts-