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NACHRUFE
Wissenschaft Zusammenwirken, aber es gab „tragische Friktionen“ (Ute Daniel),
schon persönlicher und fakultätspolitischer Art, und wenn man seither von der „Bie-
lefelder Schule“ spricht, so ist da Koselleck nicht inbegriffen. Die Gesellschaftshisto-
riker besetzten die deutsche Geschichte 1870-1918 und wirkten durch Readers, die
Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ und Tagungen, — die Begriffshistoriker
besetzten die Sattelzeit 1750-1850 und wirkten durch das Lexikon und durch Sym-
posien mit Literaturwissenschaftlern und Philosophen in der Forschungsgruppe
„Poetik und Hermeneutik“ oder in einer anderen über „Theorie der Geschichte“.
In dem Band „Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten“ hat
Koselleck 1979 seine bis dahin wichtigsten geschichtstheoretischen Aufsätze gesam-
melt. 2000 begann er mit einer vollständigeren Sammlung („Zeitschichten“ und die
2006 postum erschienenen „Begriffsgeschichten“). Neben seinen großen Lexikon-
artikeln wird er durch diese Abhandlungen als unverwechselbare Historikerpersön-
lichkeit weiterwirken. Es geht dabei weniger um unumstößliche neue Erkenntnisse
als um anstoßende, immer wieder anstoßerregende Beobachtungen — über die
Abdankung der Geschichte als „Magistra Vitae“, über die bessere Geschichtsschrei-
bung durch die Besiegten - oder Einführungen neuer Begriffe und Gesichtspunkte:
Kollektivsingular Geschichte, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, historische
Zeitschichten, Wiederholungsstrukturen.
Den Texten, der Sprache, der Hermeneutik stand er immer sehr nahe, aber
in einem denkwürdigen Vortrag in unserer Akademie zur Feier des 85. Geburtstages
seines Lehrers Hans-Georg Gadamer 1986 unterschied er zwischen Historik und
Hermeneutik. Denn der Historiker „bedient sich grundsätzlich der Texte nur als
Zeugnisse, um aus ihnen eine Wirklichkeit zu eruieren, die hinter den Texten liegt.
Er thematisiert also mehr als alle anderen Textexegeten einen Sachverhalt, der jeden-
falls außertextlich ist, auch wenn er dessen Wirklichkeit nur mit sprachlichen Mit-
teln konstituiert.“
ERNST SCHULIN
NACHRUFE
Wissenschaft Zusammenwirken, aber es gab „tragische Friktionen“ (Ute Daniel),
schon persönlicher und fakultätspolitischer Art, und wenn man seither von der „Bie-
lefelder Schule“ spricht, so ist da Koselleck nicht inbegriffen. Die Gesellschaftshisto-
riker besetzten die deutsche Geschichte 1870-1918 und wirkten durch Readers, die
Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ und Tagungen, — die Begriffshistoriker
besetzten die Sattelzeit 1750-1850 und wirkten durch das Lexikon und durch Sym-
posien mit Literaturwissenschaftlern und Philosophen in der Forschungsgruppe
„Poetik und Hermeneutik“ oder in einer anderen über „Theorie der Geschichte“.
In dem Band „Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten“ hat
Koselleck 1979 seine bis dahin wichtigsten geschichtstheoretischen Aufsätze gesam-
melt. 2000 begann er mit einer vollständigeren Sammlung („Zeitschichten“ und die
2006 postum erschienenen „Begriffsgeschichten“). Neben seinen großen Lexikon-
artikeln wird er durch diese Abhandlungen als unverwechselbare Historikerpersön-
lichkeit weiterwirken. Es geht dabei weniger um unumstößliche neue Erkenntnisse
als um anstoßende, immer wieder anstoßerregende Beobachtungen — über die
Abdankung der Geschichte als „Magistra Vitae“, über die bessere Geschichtsschrei-
bung durch die Besiegten - oder Einführungen neuer Begriffe und Gesichtspunkte:
Kollektivsingular Geschichte, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, historische
Zeitschichten, Wiederholungsstrukturen.
Den Texten, der Sprache, der Hermeneutik stand er immer sehr nahe, aber
in einem denkwürdigen Vortrag in unserer Akademie zur Feier des 85. Geburtstages
seines Lehrers Hans-Georg Gadamer 1986 unterschied er zwischen Historik und
Hermeneutik. Denn der Historiker „bedient sich grundsätzlich der Texte nur als
Zeugnisse, um aus ihnen eine Wirklichkeit zu eruieren, die hinter den Texten liegt.
Er thematisiert also mehr als alle anderen Textexegeten einen Sachverhalt, der jeden-
falls außertextlich ist, auch wenn er dessen Wirklichkeit nur mit sprachlichen Mit-
teln konstituiert.“
ERNST SCHULIN