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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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I. Jahresfeier am 24. Juni 2023

„Von Demut und vom Zweifeln in der Wissenschaft"
Bericht des Präsidenten
Wir leben in interessanten Zeiten. Prognosen von 2019 hätten die neuesten Tur-
bulenzen und Erschütterungen kaum vorhersagen können. Der typische Wandel
wich elementaren Herausforderungen. Erst im Rückblick wird man die Beschleu-
nigungen, die Brüche und ihre Wirkungen genauer einschätzen können. Wenn
ich von interessanten Zeiten spreche, so blende ich die Erfahrungen von Leid und
Zerstörung keineswegs aus. Die Corona-Pandemie, die Kriege und Gewalttaten
unserer Gegenwart sowie die zunehmende Zerstörung unserer Lebenswelt haben
viel angerichtet. Dabei wich das sich wesentlich aus Erfahrungen speisende routi-
nierte Handeln von Politik und Gesellschaft plötzlich der Notwendigkeit, experi-
mentell zu agieren und ins Risiko zu gehen. Die Wissenschaft lernte in den letzten
dreijahren deutlicher als zuvor, Teil der Gesellschaft zu sein und sich in drängende
Fragen einzumischen. Die mediale Präsenz von Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern war vielleicht noch nie so hoch wie jetzt. Auch viele Mitglieder unserer
Akademie haben sich in der Politik- und Gesellschaftsberatung engagiert.
Dabei erfuhren wir aber auch die Grenzen von Expertenwissen. Das Verhält-
nis von Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft wird neu zu justieren sein. Den
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird auch Demut abverlangt, und wir
tun gut daran, dies in unsere Botschaften deutlicher einzubeziehen. Angesichts
von Entscheidungsdruck ist wissenschaftliche Erkenntnis förderlich, notwendig
und häufig legitimationsstiftend. Doch es scheint nicht wirklich zu gelingen, alle
Menschen wirklich an das Grundprinzip von Wissenschaft zu gewöhnen. Schon
vom ersten Semester an trainieren wir unsere Studierenden nämlich in einer Kul-
tur des Zweifelns. Wissenschaftlicher Fortschritt entsteht nur aus der Anzweiflung
und Veränderung von überkommenem Lehrbuchwissen. Die Anfänge europäi-
scher Universitäten im Mittelalter waren mit der Warnung verbunden, auf keinen
Fall den alten Eseln zu folgen. Vielmehr solle man querdenken, in Frage stellen,
abwägen und im Vertrauen auf den Verstand Neues ausprobieren. Vielleicht ist es
richtig, vielleicht ist es falsch?
Das ist das Prinzip von Wissenschaft: dialektisch denken, weiterkommen, klü-
ger werden, Irrwege in Kauf nehmen. Wir als Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler müssen den Menschen, die auf uns hören sollen, dieses Experimentelle
des Akademischen deutlich machen. Wer das bei der Beratung vergisst, hat den
Gelehrten mit dem Allwissenden veiwechselt. Gute Wissenschaft formuliert ihre
Aussagen nach bestem Gewissen, überprüfbar, evidenzbasiert, intersubjektiv. Sie
wird die Kultur des Zweifelns immer mitdenken und deshalb nicht verzweifeln.
Ich habe diese Gedanken an den Beginn meines Rechenschaftsberichts gestellt,
weil wir in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften beständig um solche

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