Vortrag von Christoph Markschies
liehen Theologie auftaucht. An Clemens von Alexandrien, einem kaiserzeitlichen
christlichen Platoniker, demonstriert Dihle, wie ein Willensbegriff in die Ethik
eindringt, den er als „ungriechisch" bezeichnet und mit der klassisch-griechischen
Art vergleicht, in der der griechische Arzt Diocles von Caiystus im vierten bzw.
dritten vorchristlichen Jahrhundert über den Unterschied von instinktivem Ap-
petit und verstandesbegründetem Entschluss zum Essen spricht.24 Wirklich aufge-
nommen wird nach Dihle dieser neue Willensbegriff erst wieder in der Spätantike
bei Augustinus von Hippo; entsprechend prägen den zweiten Hauptteil des lang
geratenen Artikels über christliche Ethik auch ausführliche Bemerkungen zur Wil-
lenslehre des Augustinus, zu den Grundlagen seines Willensbegriffs und zur Ent-
scheidungsfreiheit; sie finden sich ausgearbeitet in den entsprechenden Passagen
seiner Sather Classical Lectures über „Die Vorstellung vom Willen in der Antike"
von 1974 wieder, die 1982 englisch und 1985 deutsch veröffentlicht wurden. Im
Grunde geht es Dihle in seinem Artikel zur Ethik weniger um materialethische
Fragen als vielmehr um die grundsätzlichen anthropologischen Rahmenbedin-
gungen, in deren Zusammenhang pagan wie jüdisch-christlich über Ethik nachge-
dacht wird. In den Sather Classical Lectures konzentriert sich Dihle nun ganz auf
die Entstehung des dezisionistischen Willensbegriffs bei den Christen und setzt
dazu bei der Kritik des griechischen Arztes Galen an der jüdischen (und damit
christlichen) Vorstellung einer willkürlichen Entscheidung des Schöpfers an.25
Wieder bildet Augustinus den Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung,
bei der der Zusammenhang zwischen dem Gehorsam gegen Gottes Willen und
der menschlichen Rationalität einerseits und zwischen dem Ungehorsam gegen
Gottes Willen und der menschlichen Irrationalität andererseits endgültig aufge-
löst wird und die bei biblischen Texten über die Unzugänglichkeit Gottes für den
menschlichen Verstand beginnt.26
Natürlich könnte man nach fast fünfzig Jahren Forschung am Thema mit
Dihle ausführlich die Frage diskutieren, ob die Entstehung eines dezisionistischen
Willensbegriffs wirklich mit der christlichen Aufnahme biblischer Gottes- und
Menschenbilder zu erklären ist oder beispielsweise auch schon bei dem spätan-
tiken Peripatetiker Alexander von Aphrodisias zu beobachten ist oder noch deut-
licher vorher beispielsweise bei Chiysipp oder Epiktet konstatiert werden kann.
Damit würde aber der im Willensbegriff von Dihle pointiert gesetzte Antagonis-
mus zwischen einer paganen und einer christlichen Antike zusammenbrechen
und der Neuigkeitswert der christlichen Theologie schrumpfen. Es fällt auch auf,
24 RAC VI (wie Anm. 4), 751.
25 Albrecht Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, 9; vgl. Galen, De
usu partium corporis 11,14 (Bibliotheca Teubneriana 2, 158,11-23 Helmreich).
26 Vgl. aber schon im paulinischen Römerbrief 11,33: cbg dve@pavvr|Ta rd Kpipara avroi)Kai
dvgtxviaaTOt ai oöoi avioi)(„Wie unerforschlich sind seine [scil. Gottes] Entscheide und wie
unaufspürbar seine Wege!").
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liehen Theologie auftaucht. An Clemens von Alexandrien, einem kaiserzeitlichen
christlichen Platoniker, demonstriert Dihle, wie ein Willensbegriff in die Ethik
eindringt, den er als „ungriechisch" bezeichnet und mit der klassisch-griechischen
Art vergleicht, in der der griechische Arzt Diocles von Caiystus im vierten bzw.
dritten vorchristlichen Jahrhundert über den Unterschied von instinktivem Ap-
petit und verstandesbegründetem Entschluss zum Essen spricht.24 Wirklich aufge-
nommen wird nach Dihle dieser neue Willensbegriff erst wieder in der Spätantike
bei Augustinus von Hippo; entsprechend prägen den zweiten Hauptteil des lang
geratenen Artikels über christliche Ethik auch ausführliche Bemerkungen zur Wil-
lenslehre des Augustinus, zu den Grundlagen seines Willensbegriffs und zur Ent-
scheidungsfreiheit; sie finden sich ausgearbeitet in den entsprechenden Passagen
seiner Sather Classical Lectures über „Die Vorstellung vom Willen in der Antike"
von 1974 wieder, die 1982 englisch und 1985 deutsch veröffentlicht wurden. Im
Grunde geht es Dihle in seinem Artikel zur Ethik weniger um materialethische
Fragen als vielmehr um die grundsätzlichen anthropologischen Rahmenbedin-
gungen, in deren Zusammenhang pagan wie jüdisch-christlich über Ethik nachge-
dacht wird. In den Sather Classical Lectures konzentriert sich Dihle nun ganz auf
die Entstehung des dezisionistischen Willensbegriffs bei den Christen und setzt
dazu bei der Kritik des griechischen Arztes Galen an der jüdischen (und damit
christlichen) Vorstellung einer willkürlichen Entscheidung des Schöpfers an.25
Wieder bildet Augustinus den Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung,
bei der der Zusammenhang zwischen dem Gehorsam gegen Gottes Willen und
der menschlichen Rationalität einerseits und zwischen dem Ungehorsam gegen
Gottes Willen und der menschlichen Irrationalität andererseits endgültig aufge-
löst wird und die bei biblischen Texten über die Unzugänglichkeit Gottes für den
menschlichen Verstand beginnt.26
Natürlich könnte man nach fast fünfzig Jahren Forschung am Thema mit
Dihle ausführlich die Frage diskutieren, ob die Entstehung eines dezisionistischen
Willensbegriffs wirklich mit der christlichen Aufnahme biblischer Gottes- und
Menschenbilder zu erklären ist oder beispielsweise auch schon bei dem spätan-
tiken Peripatetiker Alexander von Aphrodisias zu beobachten ist oder noch deut-
licher vorher beispielsweise bei Chiysipp oder Epiktet konstatiert werden kann.
Damit würde aber der im Willensbegriff von Dihle pointiert gesetzte Antagonis-
mus zwischen einer paganen und einer christlichen Antike zusammenbrechen
und der Neuigkeitswert der christlichen Theologie schrumpfen. Es fällt auch auf,
24 RAC VI (wie Anm. 4), 751.
25 Albrecht Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, 9; vgl. Galen, De
usu partium corporis 11,14 (Bibliotheca Teubneriana 2, 158,11-23 Helmreich).
26 Vgl. aber schon im paulinischen Römerbrief 11,33: cbg dve@pavvr|Ta rd Kpipara avroi)Kai
dvgtxviaaTOt ai oöoi avioi)(„Wie unerforschlich sind seine [scil. Gottes] Entscheide und wie
unaufspürbar seine Wege!").
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