Festvortrag von Josef Isensee
den und interpretiert werden, auch angewendet werden. Dagegen kommt der wis-
senschaftlichen Dogmatik als solcher, der juridischen wie der theologischen, kein
Geltungsanspruch zu. Die Dogmatik resümiert die amtsverbindlichen Vorgaben,
fügt sie zum System und strebt danach, auf die künftige Entwicklung der Praxis
durch bloße Überzeugungskraft einzuwirken. Die Jurisprudenz bezeichnet sich
selbst mit gewissem Stolz als praktische Wissenschaft.
Dagegen versteht der Romanist Hugo Friedrich die Literaturwissenschaft als
„genießende Wissenschaft".8 Den „schönen" Texten, denen sie sich widmet, geht jed-
weder hoheitliche Anspruch ab. Poesie hat keine Exekutive und kein Lehramt.
Vollzugsgewalt ist ihr fremd. Fremd ist ihr die Idee einer Einheit der Literatur, wie
es eine Einheit der staatlichen Rechtsordnung oder eine Einheit der kirchlichen
Glaubenslehren gibt. Daher gibt es auch keine germanistische und auch keine
allgemein-philologische Dogmatik. Poesie löst sich aus den Zwängen einer Le-
benswelt, die das Recht nötig hat, die unter dem Druck der Arbeit steht oder dem
heiligen Ernst des Glaubens folgt. Poesie ist Spiel. Im Spiel erfährt der Mensch
seine größtmögliche Freiheit innerhalb selbstgewählter Regeln. Der Mensch, so
Schiller, wird ganz Mensch, wenn er spielt.9
Der Text zeitigt Wirkungen nach außen in der Erscheinung, die er in der In-
terpretation angenommen hat. Text und Interpretation können auseinanderdrif-
ten. Erasmus von Rotterdam beobachtet zu Beginn der Glaubensspaltung: „Hier
geht die Auseinandersetzung nicht um die Heilige Schrift selbst. Beide Parteien
lieben und verehren dieselbe Schrift. Aber um deren richtiges Verständnis liegen
sie miteinander im Krieg."10 - Die Menschenrechte werden ihrem weltweit iden-
tischen Wortlaut und ihrem universalen Geltungsanspruch zum Trotz in der Staa-
tenwelt unterschiedlich ausgelegt. Die herrschenden politischen Ideologien, wie
die humanitär-liberale, die sozialistisch-totalitäre, die muslimische arbeiten sich
an denselben Texten ab." - Die Interpretation kann den Text in seinem Wortlaut
geradezu aus dem praktischen Diskurs verdrängen, wenn hinter ihr eine Autorität
wie das Bundesverfassungsgericht steht. So hat das Grundrecht eines jeden auf
freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt
und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt
(Art. 2 Abs. 1 GG), heute nur noch papierene Bedeutung angesichts seiner Ausle-
8 Hugo Friedrich, Dichtung und die Methoden ihrer Deutung, in: Die Albert-Ludwigs-Uni-
versität Freiburg 1457-1957, Textvorträge bei der Jubiläumsfeier 1957, S. 95 (99).
9 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795),
15. Brief.
10 Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio, 1524.
11 Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 86 ff; Eckart Klein,,
Menschenrechte, 1997, S. 23 ff; Josef Isensee, Die heikle Weltherrschaft der Menschenrech-
te, in: FS für Eckart Klein, 2013, S. 1085 ff
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den und interpretiert werden, auch angewendet werden. Dagegen kommt der wis-
senschaftlichen Dogmatik als solcher, der juridischen wie der theologischen, kein
Geltungsanspruch zu. Die Dogmatik resümiert die amtsverbindlichen Vorgaben,
fügt sie zum System und strebt danach, auf die künftige Entwicklung der Praxis
durch bloße Überzeugungskraft einzuwirken. Die Jurisprudenz bezeichnet sich
selbst mit gewissem Stolz als praktische Wissenschaft.
Dagegen versteht der Romanist Hugo Friedrich die Literaturwissenschaft als
„genießende Wissenschaft".8 Den „schönen" Texten, denen sie sich widmet, geht jed-
weder hoheitliche Anspruch ab. Poesie hat keine Exekutive und kein Lehramt.
Vollzugsgewalt ist ihr fremd. Fremd ist ihr die Idee einer Einheit der Literatur, wie
es eine Einheit der staatlichen Rechtsordnung oder eine Einheit der kirchlichen
Glaubenslehren gibt. Daher gibt es auch keine germanistische und auch keine
allgemein-philologische Dogmatik. Poesie löst sich aus den Zwängen einer Le-
benswelt, die das Recht nötig hat, die unter dem Druck der Arbeit steht oder dem
heiligen Ernst des Glaubens folgt. Poesie ist Spiel. Im Spiel erfährt der Mensch
seine größtmögliche Freiheit innerhalb selbstgewählter Regeln. Der Mensch, so
Schiller, wird ganz Mensch, wenn er spielt.9
Der Text zeitigt Wirkungen nach außen in der Erscheinung, die er in der In-
terpretation angenommen hat. Text und Interpretation können auseinanderdrif-
ten. Erasmus von Rotterdam beobachtet zu Beginn der Glaubensspaltung: „Hier
geht die Auseinandersetzung nicht um die Heilige Schrift selbst. Beide Parteien
lieben und verehren dieselbe Schrift. Aber um deren richtiges Verständnis liegen
sie miteinander im Krieg."10 - Die Menschenrechte werden ihrem weltweit iden-
tischen Wortlaut und ihrem universalen Geltungsanspruch zum Trotz in der Staa-
tenwelt unterschiedlich ausgelegt. Die herrschenden politischen Ideologien, wie
die humanitär-liberale, die sozialistisch-totalitäre, die muslimische arbeiten sich
an denselben Texten ab." - Die Interpretation kann den Text in seinem Wortlaut
geradezu aus dem praktischen Diskurs verdrängen, wenn hinter ihr eine Autorität
wie das Bundesverfassungsgericht steht. So hat das Grundrecht eines jeden auf
freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt
und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt
(Art. 2 Abs. 1 GG), heute nur noch papierene Bedeutung angesichts seiner Ausle-
8 Hugo Friedrich, Dichtung und die Methoden ihrer Deutung, in: Die Albert-Ludwigs-Uni-
versität Freiburg 1457-1957, Textvorträge bei der Jubiläumsfeier 1957, S. 95 (99).
9 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795),
15. Brief.
10 Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio, 1524.
11 Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 86 ff; Eckart Klein,,
Menschenrechte, 1997, S. 23 ff; Josef Isensee, Die heikle Weltherrschaft der Menschenrech-
te, in: FS für Eckart Klein, 2013, S. 1085 ff
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