Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

Citation link: 
https://digi.hadw-bw.de/view/jbhadw2023/0143
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Festvortrag von Josef Isensee

Wort wird ausgelegt durch das Wort. Die Auslegung und ihr Gegenstand gehören
demselben Genre an, der Sprache. Das Recht lebt in der Sprache wie der Fisch im
Wasser. Mit eigenen, schönen Worten begründet Paul Kirchhof, warum die an sich
alles andere als schöne, ästhetisch anspruchslose, karge Gesetzes- und Juristen-
sprache ihrem Gegenstand entspricht, in der Regel brauchbare Dienste leistet und
sogar einen spröden Reiz gewinnen kann für den Juristen mit Sprachgefühl.
Die Botschaft des Rechts ist auf den Dienst der Sprache angewiesen, um zu
Wirksamkeit, Klarheit, Dauer, Resilienz zu gelangen. Sprache ist eine lebendige, ei-
gensinnige Größe, Werk der Sprachgemeinschaft im Gang ihrer Geschichte, nicht
etwa Werk staatlicher Planung und Entscheidung, sogar mehr oder weniger wi-
derspenstig gegenüber Regulierungsversuchen wie der derzeitigen Genderierung.
Die Sprache ist offen, mehrdeutig und wandelbar. Ihr Gebrauch kann den Sinn der
Rechtsnorm, die Bestimmtheit, Stetigkeit und Verlässlichkeit ihrer Botschaft un-
terlaufen.16 „Die Rechtsänderung durch geplanten Sprachgebrauch" außerhalb der
rechtlich vorgesehenen Verfahren wird möglich.17 Als neuere Illustration dieses Vor-
gangs lässt sich die Mutation des Rechtsinstituts der Ehe nennen, die vom Grund-
gesetz „dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung" anvertraut ist.18 Bei den
Beratungen des Grundgesetzes wurde sie, der Tradition entsprechend, als „rechtmä-
ßige Form der dauernden Lebensgemeinschaft von Mann und Frau" verstanden,19
indes sie heute von Gesetzes wegen als geschlechtsindifferente Lebensgemeinschaft
definiert wird.20 Akteure eines solchen informellen Sprach- und Verfassungswan-
dels: Gesellschaftspolitiker, Medien, das Bundesverfassungsgericht, der einfache Ge-
setzgeber, der allgemeine Sprachgebrauch, in allem der Zeitgeist.
Die Literaturwissenschaften sind Problemen solcher Art enthoben. Ihr Sujet
kann zwar Wirkungen in der Lebenswelt zeitigen. Die Märchen, die Scheheraza-
de in Tausendundeiner Nacht dem König vorliest und auf dem Höhepunkt der
Spannung abbricht, bewegen den König, die an sich beschlossene Hinrichtung der
Erzählerin aufzuschieben. Er will wissen, wie die Geschichte ausgeht. Das Mär-

sche Sprache, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundes-

republik Deutschland, Bd. II, 32004, § 20; ders., Recht wirkt durch Sprache, in: Festschrift

für Erikjayme, Bd. II, 2004, S. 116 ff; ders., Das Wort ist stärker als sein Sprecher, in: FAZ v.

23.11.2005, Nr. 273, S. 43; ders., Justitia spricht deutsch, in: FAZ v. 16.5.2008, Nr. 113, S. 37;

ders., Die Sprache des Rechts, in: Paul Kirchhof (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft, 2010,

S. 77 f£

16 Paul Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987.

17 Paul Kirchhof, Rechtsänderung durch geplanten Sprachgebrauch?, in: Gedächtnisschrift für
Friedrich Klein, 1977, S. 227. Vgl. auch ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung,
1995, S.42 f£

18 § 1353 Abs. 1 BGB, neu gefaßt durch Gesetz v. 20.7.2017.

19 Bericht in: JöR n. F. 1 (1951), S. 92 ff.

20 Zur Mutation des Ehebegriffs mit Nachw. Matthias Jestaedt, Ehe, Familie, Erziehung, in:
Herdegen/Masing/Poscher/Gärditz (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2021, § 22 Rn.
31 f£

143
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften