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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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Festvortrag von Josef Isensee

des „Rechts auf Leben" überhaupt so subtile Antworten zu, wie es die konkreten
Fragen verlangen? Die rechtlichen Grenzen sind schwierig zu erkennen. Doch das
ist kein Grund, zu folgern, dass es überhaupt keine rechtlichen Grenzen gebe.24
Auch die Resignation vor der Aufgabe, die Grenzen zu bestimmen, wäre ein Akt
der Interpretation, der praktische Folgen nach sich zöge: nämlich die Negation des
staatlichen Schutzes sowie die Ausweitung der Freiheit derer, welche die Macht
und das Interesse haben, über das Leben anderer zu verfügen. Definition, also In-
terpretation, ist hier unvermeidlich. Was der Staat nicht definieren kann, das kann
er auch nicht schützen.
Es ist Aufgabe der Jurisprudenz, den anwendungsfähigen Sinn des Gesetzes
zu erschließen. Hier mag der Rechtsgelehrte zuweilen vor der Undeutlichkeit und
Inkonsistenz einer Norm resignieren, weil er mit seinem methodologischen Latein
am Ende ist. Der Verwaltungsbeamte und der Richter, denen die Rechtsanwen-
dung obliegt, resignieren nicht. So darf der Richter, ungeachtet seiner sachlichen
und persönlichen Unabhängigkeit, eine Klage nicht deswegen abweisen, weil das
Gesetz, auf das sie sich stützt, mehrdeutig ist. Der Richter muss entscheiden, und
das unter Zeitdruck. Zuweilen bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Gordischen
Knoten des Rechtsfalls mit einem hermeneutischen Schwert zu durchschneiden.
Exemplarisch für eine jede Rechtsordnung stellt Art. 4 Code Civil fest: „Der Rich-
ter, der sich weigert, einen Bescheid zu erteilen, unter dem Vorwand, dass das
Gesetz für den Fall keine Regelung enthalte, dass es dunkel oder unzureichend sei,
kann sich der Rechtsverweigerung schuldig machen." Er darf auch nicht vor den
Widersprüchen innerhalb der Rechtsordnung resignieren, die sich nicht nach kla-
ren Regeln wie dem Vorrang der lex specialis vor der lex generalis auflösen lassen.
Das Gleiche gilt für Antinomien, wie sie zwischen den liberalen und den sozialen
Faktoren oder zwischen Parteibindung und Gemeinwohlorientierung des Parla-
mentariers bestehen. Hier ergibt sich die Lösung im schonenden Ausgleich (der
„praktischen Konkordanz") der einander widerstrebenden Prinzipien.
Alle Normgeltung richtet sich aus auf die Idee der Einheit der Rechtsord-
nung.25 Die Idee der Einheit leitet die hermeneutische Rekonstruktion der Rechts-
ordnung als System. Das aber ist mehr als Sache formal-logischer Ästhetik, sondern
ein Ausweis der Rationalität der Normen, deren sie zu ihrer Legitimation bedür-
fen. Mutatis mutandis erfasst die Idee der Einheit auch die disparaten Texte des bi-
blischen Kanons in der Orthodoxie wie in der Orthopraxie ihrer Botschaften. Die

24 Dazu Ralf Müller-Terpitz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Josef Isensee/
Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII,
32009, § 147 Rn. 12 ff, 32.

25 Zur logischen Einheit Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 21960, S. 368 ff, 566 ff Zur staats-
rechtlichen Einheit Fritz Ossenbiihl, Gesetz und Recht - die Rechtsquellen, in: Josef Isensee/
Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V,
32007, § 100 Rn. 85 ff.

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