Festvortrag von Josef Isensee
Dialektik nötig noch hermeneutische Um- und Auswege: je unbegreiflicher der
Befehl, desto höher stand die Tugend des Gehorsams.29
Dass die Bibel die Polygamie, wie sie in der Frühzeit des ausgewählten Vol-
kes geherrscht hat, nicht verurteilt, wird von Augustinus damit gerechtfertigt, sie
habe dazu gedient, die noch nicht hinreichend bevölkerte Erde zu füllen und so
den Sitten der Zeit entsprochen.30 Ob die heute drohende Überbevölkerung die
Kirche zum Nachdenken analog Augustinus über ihre biblisch und naturrechtlich
begründeten Ehe- und Sexualgesetze bewegen könnte, ist bisher nicht bekannt.
- Thomas erklärt, warum Moses in dem Buch Genesis nichts über die Erschaf-
fung der Engel berichtet hat, von der er doch sicher Kenntnis gehabt habe: Moses
habe die Gefahr vermeiden wollen, dass das soeben zum Monotheismus bekehrte
Volk angesichts der Vielzahl himmlischer Geister wieder in die Vielgötterei zu-
rückfalle.31 Das Schweigen der Bibel wird also auf ein heilspädagogisches Motiv
zurückgeführt, die mangelnde religiöse Reife. Eine spätere, im Glauben gefes-
tigte Generation müsste also eigentlich in der Lage sein, die ganze Wahrheit zu
vertragen. Doch die heutige Exegese neigt aus heilspädagogischen Gründen ganz
anderer Art zu selektiver Interpretation, nämlich aus Rücksicht auf die leicht reiz-
baren Neiven der Christenheit in der westlichen Welt nur die Seite des liebenden,
friedenstiftenden, allverzeihenden Gottes zu vermitteln, nicht aber den Gott der
Strafe, den Gott des Gerichts, den alttestamentlichen Gott, der die Schuld der Vä-
ter an den Kindern und Enkeln rächt (Ex 34, 6-7), der an seinen Zornestagen die
Wehrlosen und Unschuldigen schonungslos schlachtet (Klagelied 2, 21) und über
die Verzweiflung der Unschuldigen lacht (Job 9, 23).32
Augustinus bietet eine theologische Erklärung für das Dilemma der Bibel-
Exegese zu allen Zeiten: Gott selbst habe das Dilemma gewollt, um den Hochmut
des Lesers durch Verständnisschwierigkeiten zu dämpfen und seinen Intellekt vor
Langeweile zu bewahren; denn eingängige Lektüre verfalle leicht der Geringschät-
zung.33
VI. Fremdheit des Textes: die Herausforderung der Hermeneutik
1. Interpretation als Antwort auf die Vergänglichkeit
Der Interpret begegnet dem Text als fremder Individualität.34 Das ist die Ausgangs-
lage der Hermeneutik. Hermeneutik, so Odo Marquard, ist die Antwort auf die
29 Manfred Oeniing, Biblische Hermeneutik, 1998, S. 95 ff.
30 Augustinus, De doctrina christiana, liber III, 47, 48.
31 Thomas, Summa theologiae, p. I, q. LXI, q. I ad I - unter Berufung auf Augustinus.
32 Ulrich Berges, Die dunklen Seiten des guten Gottes, 2013.
33 Augustinus, De doctrina christiana, liber II, VI.7.10.
34 Begriff von August Böckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissen-
schaften, 21886, S. 86.
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Dialektik nötig noch hermeneutische Um- und Auswege: je unbegreiflicher der
Befehl, desto höher stand die Tugend des Gehorsams.29
Dass die Bibel die Polygamie, wie sie in der Frühzeit des ausgewählten Vol-
kes geherrscht hat, nicht verurteilt, wird von Augustinus damit gerechtfertigt, sie
habe dazu gedient, die noch nicht hinreichend bevölkerte Erde zu füllen und so
den Sitten der Zeit entsprochen.30 Ob die heute drohende Überbevölkerung die
Kirche zum Nachdenken analog Augustinus über ihre biblisch und naturrechtlich
begründeten Ehe- und Sexualgesetze bewegen könnte, ist bisher nicht bekannt.
- Thomas erklärt, warum Moses in dem Buch Genesis nichts über die Erschaf-
fung der Engel berichtet hat, von der er doch sicher Kenntnis gehabt habe: Moses
habe die Gefahr vermeiden wollen, dass das soeben zum Monotheismus bekehrte
Volk angesichts der Vielzahl himmlischer Geister wieder in die Vielgötterei zu-
rückfalle.31 Das Schweigen der Bibel wird also auf ein heilspädagogisches Motiv
zurückgeführt, die mangelnde religiöse Reife. Eine spätere, im Glauben gefes-
tigte Generation müsste also eigentlich in der Lage sein, die ganze Wahrheit zu
vertragen. Doch die heutige Exegese neigt aus heilspädagogischen Gründen ganz
anderer Art zu selektiver Interpretation, nämlich aus Rücksicht auf die leicht reiz-
baren Neiven der Christenheit in der westlichen Welt nur die Seite des liebenden,
friedenstiftenden, allverzeihenden Gottes zu vermitteln, nicht aber den Gott der
Strafe, den Gott des Gerichts, den alttestamentlichen Gott, der die Schuld der Vä-
ter an den Kindern und Enkeln rächt (Ex 34, 6-7), der an seinen Zornestagen die
Wehrlosen und Unschuldigen schonungslos schlachtet (Klagelied 2, 21) und über
die Verzweiflung der Unschuldigen lacht (Job 9, 23).32
Augustinus bietet eine theologische Erklärung für das Dilemma der Bibel-
Exegese zu allen Zeiten: Gott selbst habe das Dilemma gewollt, um den Hochmut
des Lesers durch Verständnisschwierigkeiten zu dämpfen und seinen Intellekt vor
Langeweile zu bewahren; denn eingängige Lektüre verfalle leicht der Geringschät-
zung.33
VI. Fremdheit des Textes: die Herausforderung der Hermeneutik
1. Interpretation als Antwort auf die Vergänglichkeit
Der Interpret begegnet dem Text als fremder Individualität.34 Das ist die Ausgangs-
lage der Hermeneutik. Hermeneutik, so Odo Marquard, ist die Antwort auf die
29 Manfred Oeniing, Biblische Hermeneutik, 1998, S. 95 ff.
30 Augustinus, De doctrina christiana, liber III, 47, 48.
31 Thomas, Summa theologiae, p. I, q. LXI, q. I ad I - unter Berufung auf Augustinus.
32 Ulrich Berges, Die dunklen Seiten des guten Gottes, 2013.
33 Augustinus, De doctrina christiana, liber II, VI.7.10.
34 Begriff von August Böckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissen-
schaften, 21886, S. 86.
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