Festvortrag von Josef Isensee
VII. Die Macht des Interpreten
In einem Roman von Joseph Roth heißt es zu einem Wechsel des politischen Re-
gimes: „Wir waren nicht von Gesetzen, sondern von Launen abhängig. Aber diese
Launen waren fast eher berechenbar als die Gesetze. Und auch Gesetze sind von
Launen abhängig. Man kann sie nämlich auslegen."44 Hier äußert sich Enttäu-
schung darüber, dass der wirkliche Rechtsstaat seine platonische Verheißung nicht
einlöst, dass nicht Menschen herrschen, sondern Gesetze. Denn wenn die Gesetze
der Interpretation bedürfen, kehren die Menschen zurück, mit ihnen ihre Launen,
in denen sich die Herrschaft der Gesetze nur als getarnte Herrschaft seiner Inter-
preten eiweist.
Jeder autoritative Satz zieht die Frage nach sich, wer ihn drittverbindlich in-
terpretiert. Quis interpretabitur? Quis iudicabit? Thomas Hobbes erkennt hier
die eigentliche Machtfrage, die der Staat für sich entscheiden muss, wenn er als
Macht- und Entscheidungseinheit bestehen will.45 Die Gesetze, die der Staat her-
vorbringt, gelangen nur dann zur Wirksamkeit, wenn er auch über die Macht ver-
fügt, sie zu interpretieren und zu vollziehen, anders gewendet: wenn er im Streit
um die richtige Auslegung das Recht des letzten Wortes behauptet. Der Rechtsstaat
trifft Vorkehrungen, diese Macht zu domestizieren und die Freiheit des Bürgers
vor deren Missbrauch zu schützen, durch Gewaltenteilung, Kontrollhierarchien,
Begründungspflicht, vor allem durch die Bindung an die Verfassung. Die Interpre-
tationsgewalt verfeinert sich, aber sie verschwindet nicht.
Die Gesetzgeber haben immer wieder Anläufe unternommen, die Macht der
Interpreten zu brechen. Der oströmische Kaiser Justinian und der preußische Kö-
nig Friedrich der Große sahen für ihre Gesetzeswerke Interpretationsverbote vor.
Diese sind praktisch gescheitert. Einen anderen Weg wählten das Schweizer Zivil-
gesetzbuch und die Reichsabgabenordnung: sie trafen Regelungen für ihre eigene
Interpretation. Doch schufen sie damit Normen, die ihrerseits Interpretation er-
forderten. Und diese Interpretation der zweiten Stufe sollte sich als schwieriger er-
weisen als die Interpretation der Primärnormen, um deren Erleichterung es doch
gehen sollte. Die Norm kann ihre Interpretation ebensowenig abschütteln wie der
Mensch seinen Schatten.
In der Jurisprudenz erheben sich hohe Eiwartungen an eine Methodenlehre,
die den Umgang mit Rechtstexten theoretisch stimmig und praktisch sicher zu
steuern vermag. Die Methodenlehre im heutigen Angebot gleicht einem gut ge-
füllten Werkzeugkasten, dem jedoch die zureichende Gebrauchsanweisung fehlt.
Im übrigen ist die Methode als solche keine Lösung, sondern nur ein Mittel. Nach
dem Apergu eines klassischen Philologen leitet sich Methode ab vom griechischen
44 Joseph Roth, Beichte eines Mörders (1936), in: ders., Romane, Bd. 2, 1984, S. 9 (49).
45 Thomas Hobbes, Leviathan (1651), C. 26.
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VII. Die Macht des Interpreten
In einem Roman von Joseph Roth heißt es zu einem Wechsel des politischen Re-
gimes: „Wir waren nicht von Gesetzen, sondern von Launen abhängig. Aber diese
Launen waren fast eher berechenbar als die Gesetze. Und auch Gesetze sind von
Launen abhängig. Man kann sie nämlich auslegen."44 Hier äußert sich Enttäu-
schung darüber, dass der wirkliche Rechtsstaat seine platonische Verheißung nicht
einlöst, dass nicht Menschen herrschen, sondern Gesetze. Denn wenn die Gesetze
der Interpretation bedürfen, kehren die Menschen zurück, mit ihnen ihre Launen,
in denen sich die Herrschaft der Gesetze nur als getarnte Herrschaft seiner Inter-
preten eiweist.
Jeder autoritative Satz zieht die Frage nach sich, wer ihn drittverbindlich in-
terpretiert. Quis interpretabitur? Quis iudicabit? Thomas Hobbes erkennt hier
die eigentliche Machtfrage, die der Staat für sich entscheiden muss, wenn er als
Macht- und Entscheidungseinheit bestehen will.45 Die Gesetze, die der Staat her-
vorbringt, gelangen nur dann zur Wirksamkeit, wenn er auch über die Macht ver-
fügt, sie zu interpretieren und zu vollziehen, anders gewendet: wenn er im Streit
um die richtige Auslegung das Recht des letzten Wortes behauptet. Der Rechtsstaat
trifft Vorkehrungen, diese Macht zu domestizieren und die Freiheit des Bürgers
vor deren Missbrauch zu schützen, durch Gewaltenteilung, Kontrollhierarchien,
Begründungspflicht, vor allem durch die Bindung an die Verfassung. Die Interpre-
tationsgewalt verfeinert sich, aber sie verschwindet nicht.
Die Gesetzgeber haben immer wieder Anläufe unternommen, die Macht der
Interpreten zu brechen. Der oströmische Kaiser Justinian und der preußische Kö-
nig Friedrich der Große sahen für ihre Gesetzeswerke Interpretationsverbote vor.
Diese sind praktisch gescheitert. Einen anderen Weg wählten das Schweizer Zivil-
gesetzbuch und die Reichsabgabenordnung: sie trafen Regelungen für ihre eigene
Interpretation. Doch schufen sie damit Normen, die ihrerseits Interpretation er-
forderten. Und diese Interpretation der zweiten Stufe sollte sich als schwieriger er-
weisen als die Interpretation der Primärnormen, um deren Erleichterung es doch
gehen sollte. Die Norm kann ihre Interpretation ebensowenig abschütteln wie der
Mensch seinen Schatten.
In der Jurisprudenz erheben sich hohe Eiwartungen an eine Methodenlehre,
die den Umgang mit Rechtstexten theoretisch stimmig und praktisch sicher zu
steuern vermag. Die Methodenlehre im heutigen Angebot gleicht einem gut ge-
füllten Werkzeugkasten, dem jedoch die zureichende Gebrauchsanweisung fehlt.
Im übrigen ist die Methode als solche keine Lösung, sondern nur ein Mittel. Nach
dem Apergu eines klassischen Philologen leitet sich Methode ab vom griechischen
44 Joseph Roth, Beichte eines Mörders (1936), in: ders., Romane, Bd. 2, 1984, S. 9 (49).
45 Thomas Hobbes, Leviathan (1651), C. 26.
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