III. Veranstaltungen
„met' hodön": nach (hinter) dem Weg. Methode also als der Weg, nachdem man
ihn gegangen ist.46 Die Methode leistet rückwirkende Rationalisierung des Denk-
vorgangs, wenn er sein Ziel bereits erreicht hat. An der etymologischen Ableitung
mögen sich Zweifel regen. Doch die Praxis kann sich wiedererkennen.
VIII. Hermeneutische Wahrheit
Da alle Versuche scheitern, die Hermeneutik von außen her zu steuern und zu
binden, bleibt nur das innere Ziel: die hermeneutischen Schritte richtig zu tun.
Einen Text verstehen, heißt notwendig, ihn richtig verstehen. Wer ihn nicht richtig
versteht, versteht ihn eben gar nicht. Von richtigem Verständnis oder von richtiger
Auslegung zu reden, ist pleonastisch. Jedem hermeneutischen Akt wohnt das Stre-
ben nach Richtigkeit inne oder, höher greifend, das Streben nach Wahrheit. Doch
was heißt hier Wahrheit?
Die Hermeneutik nimmt die Texte, wie sie sind, und fragt nicht danach, ob
deren Botschaft wahr ist oder unwahr, richtig oder falsch, gut oder böse. Die Wahr-
heit der Interpretation hängt nicht ab von der Wahrheit ihres Gegenstandes. Im
Gegenteil: Wer genau und ungeschminkt den lügnerischen Inhalt einer Rede wie-
dergibt, handelt, hermeneutisch gesehen, wahrheitsgetreu. Wer dagegen den Inhalt
moralisch nachbessert und das Falsche richtigstellt, wird selbst zum Lügner. Der
Interpret ist Bote, nicht Absender; Mittler, nicht Autor. Der Bote verändert nicht
die Botschaft, aber er haftet auch nicht für ihren Inhalt. Er braucht sich mit ihr nicht
zu identifizieren, und er muss ihr nicht glauben. Der wissenschaftliche Interpret
schuldet nicht Affirmation. Der Agnostiker kann den Sinn einer biblischen Schrift
verstehen und eine zutreffende Exegese leisten. Der Kommentator mag ein Gesetz,
das er für misslungen hält, lege artis erläutern. Der Richter muss eine Norm, die ihm
ungerecht, wenn auch nicht ungültig erscheint, werkgetreu anwenden.
Hermeneutik ist die planmäßige Suche nach der Wahrheit über einen Text.
Die hermeneutische Wahrheit besteht in der Übereinstimmung des Verstehens,
des Auslegens und des Anwendens mit der Vorlage. Diese Definition entspricht
dem thomasischen Begriff der Wahrheit: veritas est adaequatio intellectus cum
re47: Wahrheit als Adäquanz. Adäquanz bedeutet nicht Identität und nicht Kopie,
nicht perfekte Kongruenz und nicht photographische Ähnlichkeit. Eher taugt der
Vergleich mit einem Portrait, das der Maler aus seinem Blickwinkel und in seiner
Manier herstellt. Dennoch: „In Bild und Abgebildetem muß etwas identisch sein,
damit das eine überhaupt das Bild des anderen sein kann"48. In welcher Hinsicht
dieses „identische" Etwas aber bestehen muss, sagt der hochabstrakte Begriff der
46 Reinhold Merkelbach, zitiert nach Wolfgang Dieter Lebek, Nachruf, in: Nordrhein-Westfäli-
sche Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 2007, S. 166 (177).
47 Thomas, Summa theologiae, p. I, qu. 16, art. 1; ders., De veritate, qu. 1, art. 1.
48 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1926, S. 161.
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„met' hodön": nach (hinter) dem Weg. Methode also als der Weg, nachdem man
ihn gegangen ist.46 Die Methode leistet rückwirkende Rationalisierung des Denk-
vorgangs, wenn er sein Ziel bereits erreicht hat. An der etymologischen Ableitung
mögen sich Zweifel regen. Doch die Praxis kann sich wiedererkennen.
VIII. Hermeneutische Wahrheit
Da alle Versuche scheitern, die Hermeneutik von außen her zu steuern und zu
binden, bleibt nur das innere Ziel: die hermeneutischen Schritte richtig zu tun.
Einen Text verstehen, heißt notwendig, ihn richtig verstehen. Wer ihn nicht richtig
versteht, versteht ihn eben gar nicht. Von richtigem Verständnis oder von richtiger
Auslegung zu reden, ist pleonastisch. Jedem hermeneutischen Akt wohnt das Stre-
ben nach Richtigkeit inne oder, höher greifend, das Streben nach Wahrheit. Doch
was heißt hier Wahrheit?
Die Hermeneutik nimmt die Texte, wie sie sind, und fragt nicht danach, ob
deren Botschaft wahr ist oder unwahr, richtig oder falsch, gut oder böse. Die Wahr-
heit der Interpretation hängt nicht ab von der Wahrheit ihres Gegenstandes. Im
Gegenteil: Wer genau und ungeschminkt den lügnerischen Inhalt einer Rede wie-
dergibt, handelt, hermeneutisch gesehen, wahrheitsgetreu. Wer dagegen den Inhalt
moralisch nachbessert und das Falsche richtigstellt, wird selbst zum Lügner. Der
Interpret ist Bote, nicht Absender; Mittler, nicht Autor. Der Bote verändert nicht
die Botschaft, aber er haftet auch nicht für ihren Inhalt. Er braucht sich mit ihr nicht
zu identifizieren, und er muss ihr nicht glauben. Der wissenschaftliche Interpret
schuldet nicht Affirmation. Der Agnostiker kann den Sinn einer biblischen Schrift
verstehen und eine zutreffende Exegese leisten. Der Kommentator mag ein Gesetz,
das er für misslungen hält, lege artis erläutern. Der Richter muss eine Norm, die ihm
ungerecht, wenn auch nicht ungültig erscheint, werkgetreu anwenden.
Hermeneutik ist die planmäßige Suche nach der Wahrheit über einen Text.
Die hermeneutische Wahrheit besteht in der Übereinstimmung des Verstehens,
des Auslegens und des Anwendens mit der Vorlage. Diese Definition entspricht
dem thomasischen Begriff der Wahrheit: veritas est adaequatio intellectus cum
re47: Wahrheit als Adäquanz. Adäquanz bedeutet nicht Identität und nicht Kopie,
nicht perfekte Kongruenz und nicht photographische Ähnlichkeit. Eher taugt der
Vergleich mit einem Portrait, das der Maler aus seinem Blickwinkel und in seiner
Manier herstellt. Dennoch: „In Bild und Abgebildetem muß etwas identisch sein,
damit das eine überhaupt das Bild des anderen sein kann"48. In welcher Hinsicht
dieses „identische" Etwas aber bestehen muss, sagt der hochabstrakte Begriff der
46 Reinhold Merkelbach, zitiert nach Wolfgang Dieter Lebek, Nachruf, in: Nordrhein-Westfäli-
sche Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 2007, S. 166 (177).
47 Thomas, Summa theologiae, p. I, qu. 16, art. 1; ders., De veritate, qu. 1, art. 1.
48 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1926, S. 161.
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