Festvortrag von Josef Isensee
adaequatio nicht. Adaequatio bedeutet nur Entsprechung. Verschiedene Auslegun-
gen könnenje nach Perspektive und Erkenntnisinteresse nebeneinander bestehen,
ohne dass sich die eine, einzig endgültig und endgültig wahre durchsetzen muss.
Die Textvorlage selbst bleibt aber im Wechsel der Zeiten und Sichtweisen iden-
tisch.
Die hermeneutische Wahrheit über den Text (also das richtige Verstehen, Aus-
legen, Anwenden) unterscheidet sich von der ontologischen Wahrheit des Textes selbst,
also von der Wahrheit seiner Botschaft, eben der des Wortes Gottes, das sich nach
christlichem Glauben in der Heiligen Schrift zu erkennen gibt, der poetischen
Wahrheit, die sich im sprachlichen Kunstwerk verkörpert, dem naturrechtlichen
Grund einer überpositiven Norm. Die ontologische Wahrheit im Text wird ge-
funden. Die hermeneutische Wahrheit über den Text wird erarbeitet. Erstere un-
terscheidet sich je nach Art des Textes. Letztere aber, das Werk des Interpreten, ist
überall gleich. Das gilt auch für die Interpretation des positiven Gesetzes, das keine
naturrechtliche Basis aufweist, das vielmehr allein aus dem politischen Willen des
Gesetzgebers hervorgegangen ist. Denn auch das positive Gesetz ist Vorgabe des
Interpreten, mit dem seine Leistung übereinstimmen muss.
Das Wahrheitskriterium der adaequatio ist eine ihrer Art nach regulative Idee,
die den Vernunftgebrauch auf ein bestimmtes problematisches Ziel hinlenkt.49 Als
„heuristische Fiktion" im Sinne Kants signalisiert sie eine Vollkommenheit, die
wir suchen, aber noch nicht gefunden haben und unter den Bedingungen unseres
Erkenntnisvermögens auch niemals zur Gänze und endgültig erreichen werden.
Doch gehört es zum Ehrgeiz wie zum Ethos des Amtsträgers, aber auch zum Ethos
des Wissenschaftlers, die höchstmögliche Übereinstimmung der Ergebnisse mit
der Textvorgabe zu erreichen.
Nietzsche konstatiert: „Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen. Es gibt
keine ,richtige Auslegung'."50 Nach Thomas Hobbes sollen Staat und Recht auf
Wahrheit als Legitimationsgrund überhaupt verzichten und allein auf auctoritas be-
stehen, auf Macht und Zuständigkeit des Interpreten. Doch bloße auctoritas kann
sich der Rechtsstaat nicht leisten. Ohne Wahrheit keine Legitimation. Der Richter
kann sich auch nicht auf postmoderne Beliebigkeit berufen, ohne den Rechtsu-
chenden zutiefst zu enttäuschen. Denn das hieße, dem Sieger im Prozess den Sieg
zu vergällen, den Verlierer zum Narren zu halten und das Rechtsvertrauen der
Allgemeinheit zu unterminieren. Überdies geriete das Verfahren zum sinnlosen
Ritual, das mit erheblichem Aufwand an Intelligenz, Arbeitskraft, Zeit und Geld
zu einem Ergebnis führte, das immerhin ein Würfel unangestrengt, rasch, kosten-
los und garantiert unparteiisch erbringen könnte. Dieser Gedanke ist in der Weltli-
49 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 21787, B 799.
50 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887 (Kritische Studienausgabe, hg.
von Giogio Colli/Mazzino Montinari, 1999, Bd. 12, S. 39).
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adaequatio nicht. Adaequatio bedeutet nur Entsprechung. Verschiedene Auslegun-
gen könnenje nach Perspektive und Erkenntnisinteresse nebeneinander bestehen,
ohne dass sich die eine, einzig endgültig und endgültig wahre durchsetzen muss.
Die Textvorlage selbst bleibt aber im Wechsel der Zeiten und Sichtweisen iden-
tisch.
Die hermeneutische Wahrheit über den Text (also das richtige Verstehen, Aus-
legen, Anwenden) unterscheidet sich von der ontologischen Wahrheit des Textes selbst,
also von der Wahrheit seiner Botschaft, eben der des Wortes Gottes, das sich nach
christlichem Glauben in der Heiligen Schrift zu erkennen gibt, der poetischen
Wahrheit, die sich im sprachlichen Kunstwerk verkörpert, dem naturrechtlichen
Grund einer überpositiven Norm. Die ontologische Wahrheit im Text wird ge-
funden. Die hermeneutische Wahrheit über den Text wird erarbeitet. Erstere un-
terscheidet sich je nach Art des Textes. Letztere aber, das Werk des Interpreten, ist
überall gleich. Das gilt auch für die Interpretation des positiven Gesetzes, das keine
naturrechtliche Basis aufweist, das vielmehr allein aus dem politischen Willen des
Gesetzgebers hervorgegangen ist. Denn auch das positive Gesetz ist Vorgabe des
Interpreten, mit dem seine Leistung übereinstimmen muss.
Das Wahrheitskriterium der adaequatio ist eine ihrer Art nach regulative Idee,
die den Vernunftgebrauch auf ein bestimmtes problematisches Ziel hinlenkt.49 Als
„heuristische Fiktion" im Sinne Kants signalisiert sie eine Vollkommenheit, die
wir suchen, aber noch nicht gefunden haben und unter den Bedingungen unseres
Erkenntnisvermögens auch niemals zur Gänze und endgültig erreichen werden.
Doch gehört es zum Ehrgeiz wie zum Ethos des Amtsträgers, aber auch zum Ethos
des Wissenschaftlers, die höchstmögliche Übereinstimmung der Ergebnisse mit
der Textvorgabe zu erreichen.
Nietzsche konstatiert: „Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen. Es gibt
keine ,richtige Auslegung'."50 Nach Thomas Hobbes sollen Staat und Recht auf
Wahrheit als Legitimationsgrund überhaupt verzichten und allein auf auctoritas be-
stehen, auf Macht und Zuständigkeit des Interpreten. Doch bloße auctoritas kann
sich der Rechtsstaat nicht leisten. Ohne Wahrheit keine Legitimation. Der Richter
kann sich auch nicht auf postmoderne Beliebigkeit berufen, ohne den Rechtsu-
chenden zutiefst zu enttäuschen. Denn das hieße, dem Sieger im Prozess den Sieg
zu vergällen, den Verlierer zum Narren zu halten und das Rechtsvertrauen der
Allgemeinheit zu unterminieren. Überdies geriete das Verfahren zum sinnlosen
Ritual, das mit erheblichem Aufwand an Intelligenz, Arbeitskraft, Zeit und Geld
zu einem Ergebnis führte, das immerhin ein Würfel unangestrengt, rasch, kosten-
los und garantiert unparteiisch erbringen könnte. Dieser Gedanke ist in der Weltli-
49 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 21787, B 799.
50 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887 (Kritische Studienausgabe, hg.
von Giogio Colli/Mazzino Montinari, 1999, Bd. 12, S. 39).
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