Antrittsrede von Hanna Liss
Hanna Liss
Antrittsrede vom 21. Januar 2023
Verehrter Herr Präsident, lieber Kol-
lege Schneidmüller, verehrte Sekre-
täre, liebe Kolleginnen und Kollegen,
es ist eine große Ehre, mich an dieser
Stelle vorstellen zu dürfen, auch des-
halb, weil ich Ihnen gleichzeitig ein
Fach vorstellen kann, das es an deut-
schen Universitäten bislang nicht gibt:
die jüdische Bibelwissenschaft. Wenn
man so will, kann man meinen Wer-
degang auch als ein Leben zwischen
vielen Stühlen bezeichnen.
Ich bin das dritte von vier Kin-
dern. Mein Vater und seine Eltern
stammten aus Sarrebourg (region
Grand Est). Die mütterliche Familie
stammte aus Wroclaw (Breslau) und
war ursprünglich jüdischer Abstam-
mung. Als ich in jungen Jahren zum
Judentum als der Religion meiner Mütter zurückgekehrt bin, war das aufjüdischer
Seite durchaus nicht überall gern gesehen.
Ich studierte dann Altorientalistik, Bibelwissenschaft und Judaistik in Tübin-
gen, München und Jerusalem, arbeitete nach dem Master für meine Promotion
1995 mit den Professoren Peter Schäfer und Joseph Dan in Berlin und Jerusa-
lem über den mittelalterlichen Gelehrten Elazar ben Yehuda ben Kalonymos aus
Worms und hatte damit endgültig mein Thema der mittelalterlichen Bibel und
ihrer Auslegung vor allem im Raum Ashkenas, d. h. Rheinland und Nordfrank-
reich, gefunden. Mit diesem Schwerpunkt bin ich dann (nach einer viermonatigen
Babypause) 1997 an die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg gekommen,
seinerzeit noch unter dem orthodoxen, wenngleich sehr weltoffenen Gelehrten
Julius Carlebach. Ende der 90er Jahre begann ich bereits mit meinen Studien zum
nordfranzösischen Judentum, zunächst zum Bibelkommentar des R. Schemuel
ben Meir aus Rouen (Rashbam; 12. Jh.). 1998 kam mein zweites Kind zur Welt, es
gab aber keine Babypause mehr, denn ich war mitten in meiner Habilitation. Mitt-
lerweile hatte der israelische Historiker Michael Graetz an der Hochschule den
Posten des Rektors übernommen, und er fragte mich, warum ich denn immer die-
se ,Golus-Literatur' bearbeiten würde (er meinte damit v. a. die mittelalterlichen
203
Hanna Liss
Antrittsrede vom 21. Januar 2023
Verehrter Herr Präsident, lieber Kol-
lege Schneidmüller, verehrte Sekre-
täre, liebe Kolleginnen und Kollegen,
es ist eine große Ehre, mich an dieser
Stelle vorstellen zu dürfen, auch des-
halb, weil ich Ihnen gleichzeitig ein
Fach vorstellen kann, das es an deut-
schen Universitäten bislang nicht gibt:
die jüdische Bibelwissenschaft. Wenn
man so will, kann man meinen Wer-
degang auch als ein Leben zwischen
vielen Stühlen bezeichnen.
Ich bin das dritte von vier Kin-
dern. Mein Vater und seine Eltern
stammten aus Sarrebourg (region
Grand Est). Die mütterliche Familie
stammte aus Wroclaw (Breslau) und
war ursprünglich jüdischer Abstam-
mung. Als ich in jungen Jahren zum
Judentum als der Religion meiner Mütter zurückgekehrt bin, war das aufjüdischer
Seite durchaus nicht überall gern gesehen.
Ich studierte dann Altorientalistik, Bibelwissenschaft und Judaistik in Tübin-
gen, München und Jerusalem, arbeitete nach dem Master für meine Promotion
1995 mit den Professoren Peter Schäfer und Joseph Dan in Berlin und Jerusa-
lem über den mittelalterlichen Gelehrten Elazar ben Yehuda ben Kalonymos aus
Worms und hatte damit endgültig mein Thema der mittelalterlichen Bibel und
ihrer Auslegung vor allem im Raum Ashkenas, d. h. Rheinland und Nordfrank-
reich, gefunden. Mit diesem Schwerpunkt bin ich dann (nach einer viermonatigen
Babypause) 1997 an die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg gekommen,
seinerzeit noch unter dem orthodoxen, wenngleich sehr weltoffenen Gelehrten
Julius Carlebach. Ende der 90er Jahre begann ich bereits mit meinen Studien zum
nordfranzösischen Judentum, zunächst zum Bibelkommentar des R. Schemuel
ben Meir aus Rouen (Rashbam; 12. Jh.). 1998 kam mein zweites Kind zur Welt, es
gab aber keine Babypause mehr, denn ich war mitten in meiner Habilitation. Mitt-
lerweile hatte der israelische Historiker Michael Graetz an der Hochschule den
Posten des Rektors übernommen, und er fragte mich, warum ich denn immer die-
se ,Golus-Literatur' bearbeiten würde (er meinte damit v. a. die mittelalterlichen
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