Antrittsrede von Hanna Liss
mit unseren Vorstellungen von Ethik oder Menschenbild kollidieren kann, hat das
Judentum von Anfang an dadurch gelöst, dass man den Graben zwischen einem
immer gültigen Text und einer sich je und je neu gestaltenden Wirklichkeit nicht
einfach auf Kosten des einen oder anderen zu überbrücken versuchte. Vielmehr
wird beiden Seiten durch die Differenzierung in Performanz und Diskurs - aufge-
teilt auf die entsprechenden Artefakte - Genüge getan. Dies ist eine ausgesprochen
intelligente Lösung, denn sie gesteht der Bibel als einem antiken Buch in Form
und Inhalt (Tora-Rolle) ihre uneingeschränkte Autorität zu und autorisiert gleich-
zeitig ihre kritische Rezeption. Für mich ist dies der eigentliche Beitragjerusalems
zu unserer heutigen Kultur - gleichberechtigt neben dem Athens und Roms.
Schriftliche Tora
(Pentateuch / Bibel)
Mündliche Tora
(Rabbinische Literaturen / Masora /
Kommentar)
Entität
Permanenz der Textüberlieferung
Textüberlieferung als variierende
Rezeption
Artefakt
Tora-Rolle
Manuskript, Buch, E-Ressource
Handhabung
religionsgesetzlich festgelegt
variabel
Funktion
rituelle Performanz
Auslegung, wissenschaftlicher
Diskurs
soziales Feld
Synagoge
Lehrhaus, Universität
Leseakt
lectio continua
selektives, differenzierendes Lesen
Ziel
zeitlose Heiligung des Textes
Konstituierung der Gemeinde
Autorität
Autorisierung
Für meine wissenschaftliche Arbeit sind vor allem die (mittelalterlichen)
westeuropäischen Bibel-Codices mit Kommentaren und allen anderen Metatexten
relevant: Ausgehend von der Frage nach der Funktion und dem sozialen Feld fra-
ge ich in den verschiedenen Projekten vor allem danach, welche Bibel(n) Kinder,
Kantoren, Kommentatoren und talmudische Kasuisten zwischen dem 10. und 14.
Jahrhundert lasen und verwendeten, was sie aus ihnen heraus- bzw. in sie hinein-
lasen, und in welchen Sprachen sie dies taten (in Nordfrankreich z. B. Hebräisch,
Aramäisch, Arabisch und Altfranzösisch). Wir befassen uns daher nicht nur mit
den Inhalten dieser Texte, sondern auch ihrer Herstellung, ihrer artefaktischen
Qualität oder der Rekonstruktion plausibler Szenarien ihrer Handhabung durch
die beim Lesen und Schreiben beteiligten Personen in verschiedenen sozialen
Feldern. Hier ist noch sehr viel Grundlagenforschung zu leisten, aber eine Reihe
größerer Projekte sowie Verbundprojekte mit der Ruperto Carola haben bereits
205
mit unseren Vorstellungen von Ethik oder Menschenbild kollidieren kann, hat das
Judentum von Anfang an dadurch gelöst, dass man den Graben zwischen einem
immer gültigen Text und einer sich je und je neu gestaltenden Wirklichkeit nicht
einfach auf Kosten des einen oder anderen zu überbrücken versuchte. Vielmehr
wird beiden Seiten durch die Differenzierung in Performanz und Diskurs - aufge-
teilt auf die entsprechenden Artefakte - Genüge getan. Dies ist eine ausgesprochen
intelligente Lösung, denn sie gesteht der Bibel als einem antiken Buch in Form
und Inhalt (Tora-Rolle) ihre uneingeschränkte Autorität zu und autorisiert gleich-
zeitig ihre kritische Rezeption. Für mich ist dies der eigentliche Beitragjerusalems
zu unserer heutigen Kultur - gleichberechtigt neben dem Athens und Roms.
Schriftliche Tora
(Pentateuch / Bibel)
Mündliche Tora
(Rabbinische Literaturen / Masora /
Kommentar)
Entität
Permanenz der Textüberlieferung
Textüberlieferung als variierende
Rezeption
Artefakt
Tora-Rolle
Manuskript, Buch, E-Ressource
Handhabung
religionsgesetzlich festgelegt
variabel
Funktion
rituelle Performanz
Auslegung, wissenschaftlicher
Diskurs
soziales Feld
Synagoge
Lehrhaus, Universität
Leseakt
lectio continua
selektives, differenzierendes Lesen
Ziel
zeitlose Heiligung des Textes
Konstituierung der Gemeinde
Autorität
Autorisierung
Für meine wissenschaftliche Arbeit sind vor allem die (mittelalterlichen)
westeuropäischen Bibel-Codices mit Kommentaren und allen anderen Metatexten
relevant: Ausgehend von der Frage nach der Funktion und dem sozialen Feld fra-
ge ich in den verschiedenen Projekten vor allem danach, welche Bibel(n) Kinder,
Kantoren, Kommentatoren und talmudische Kasuisten zwischen dem 10. und 14.
Jahrhundert lasen und verwendeten, was sie aus ihnen heraus- bzw. in sie hinein-
lasen, und in welchen Sprachen sie dies taten (in Nordfrankreich z. B. Hebräisch,
Aramäisch, Arabisch und Altfranzösisch). Wir befassen uns daher nicht nur mit
den Inhalten dieser Texte, sondern auch ihrer Herstellung, ihrer artefaktischen
Qualität oder der Rekonstruktion plausibler Szenarien ihrer Handhabung durch
die beim Lesen und Schreiben beteiligten Personen in verschiedenen sozialen
Feldern. Hier ist noch sehr viel Grundlagenforschung zu leisten, aber eine Reihe
größerer Projekte sowie Verbundprojekte mit der Ruperto Carola haben bereits
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