B. Die Mitglieder
wakei, die Sowjetunion und nach Polen knüpfte. Er baute in die osteuropäischen
Staaten Brücken, die von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern be-
gangen wurden. Der Gesprächskreis in seinem Tübinger Institut half dabei. Er zog
nicht nur Fachleute an. Wer sich für Osteuropa interessierte, erhielt dort Infor-
mationen aus erster Hand. So auch als der Prager Frühling Hoffnungen eiweckte,
Solidarnosc Polen in einen grundlegenden Wandel führte und Perestrojka den Weg
für die weitgehend friedliche Auflösung des Sowjetimperiums öffnete.
Dietrich Geyer gehörte zu den einflussreichsten Reformern, die seit den
1960er Jahren das Fach Osteuropäische Geschichte in der Bundesrepublik umge-
stalteten. Die immer noch starken Bindungen an die antikommunistische „Ost-
forschung" wurden gelöst und für die sozialgeschichtlichen Impulse geöffnet,
die damals, aufgenommen vornehmlich aus den USA, generell die westdeutsche
Geschichtswissenschaft verändert haben. Geyer beteiligte sich daran aktiv und
wirkungsvoll. Er zählte 1975 zu den Gründern der Zeitschrift „Geschichte und
Gesellschaft", die zu einem Kristallisationskern einer veränderten bundesrepubli-
kanischen Geschichtswissenschaft wurde. Den polemischen Ton, in dem der Streit
um diese Neuorientierung in der Neueren Geschichte vielfach ausgetragen wur-
de, übernahm er nicht. Auch wenn er eindeutig Position bezog, schrieb und sprach
er feinsinnig gepflegt, „...aus der anmuthigen Gelehrsamkeit" (1988), dieser Titel einer
Tübinger Festgabe zu seinem 60. Geburtstag trifft es recht gut. So trat er auch auf.
Dieser Habitus suchte wohl dem nicht weichenden Bedrohungsgefühl einen Halt
auch im Persönlichen entgegenzusetzen. Fachlich führte es ihn zu der Frage, die
sein wissenschaftliches Werk und sein Wirken zunächst seit 1962 auf dem Lehr-
stuhl für Osteuropäische Geschichte in Frankfurt/Main und ab 1965 in Tübingen
bestimmt hat: Wie lässt sich die Rückständigkeit Russlands gegenüber „dem Wes-
ten" erklären, und welche Folgen hatte die nachholende Modernisierung, wie Ale-
xander Gerschenkron den russischen Weg in die Moderne charakterisiert hat?
1966 näherte er sich diesem Thema in einem Aufsatz, der zu den einfluss-
reichsten zur sozialgeschichtlichen Neubewertung der russischen Geschichte seit
dem 18. Jahrhundert gehören dürfte: „Gesellschaft" als staatliche Veranstaltung. Ihn hat
er in den Band Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland (1975) aufge-
nommen, mit dem er der internationalen Forschung wichtige Studien aus West
und Ost zur Agrarverfassung, zur Industrialisierung und zur sozialen Revolutio-
nierung vor 1914 zur Verfügung stellte. Der gewichtigste eigene Beitrag zu diesem
Themenfeld ist sein Opus Magnum Der russische Imperialismus. Studien über den Zu-
sammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860-1914 (1977, 1987 englisch). Mit
ihm hat er ein Werk vorgelegt, das mit seinem komparatistischen Ansatz zur Er-
klärung des russischen Weges in die Moderne bis heute die Forschung beeinflusst.
Er setzt sich darin mit den russischen und sowjetischen sowie den „westlichen"
Versuchen, das Besondere am russischen Imperialismus zu klären, auseinander. Er
fragt nach „der Interdependenz von beschleunigtem sozioökonomischem Wandel
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wakei, die Sowjetunion und nach Polen knüpfte. Er baute in die osteuropäischen
Staaten Brücken, die von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern be-
gangen wurden. Der Gesprächskreis in seinem Tübinger Institut half dabei. Er zog
nicht nur Fachleute an. Wer sich für Osteuropa interessierte, erhielt dort Infor-
mationen aus erster Hand. So auch als der Prager Frühling Hoffnungen eiweckte,
Solidarnosc Polen in einen grundlegenden Wandel führte und Perestrojka den Weg
für die weitgehend friedliche Auflösung des Sowjetimperiums öffnete.
Dietrich Geyer gehörte zu den einflussreichsten Reformern, die seit den
1960er Jahren das Fach Osteuropäische Geschichte in der Bundesrepublik umge-
stalteten. Die immer noch starken Bindungen an die antikommunistische „Ost-
forschung" wurden gelöst und für die sozialgeschichtlichen Impulse geöffnet,
die damals, aufgenommen vornehmlich aus den USA, generell die westdeutsche
Geschichtswissenschaft verändert haben. Geyer beteiligte sich daran aktiv und
wirkungsvoll. Er zählte 1975 zu den Gründern der Zeitschrift „Geschichte und
Gesellschaft", die zu einem Kristallisationskern einer veränderten bundesrepubli-
kanischen Geschichtswissenschaft wurde. Den polemischen Ton, in dem der Streit
um diese Neuorientierung in der Neueren Geschichte vielfach ausgetragen wur-
de, übernahm er nicht. Auch wenn er eindeutig Position bezog, schrieb und sprach
er feinsinnig gepflegt, „...aus der anmuthigen Gelehrsamkeit" (1988), dieser Titel einer
Tübinger Festgabe zu seinem 60. Geburtstag trifft es recht gut. So trat er auch auf.
Dieser Habitus suchte wohl dem nicht weichenden Bedrohungsgefühl einen Halt
auch im Persönlichen entgegenzusetzen. Fachlich führte es ihn zu der Frage, die
sein wissenschaftliches Werk und sein Wirken zunächst seit 1962 auf dem Lehr-
stuhl für Osteuropäische Geschichte in Frankfurt/Main und ab 1965 in Tübingen
bestimmt hat: Wie lässt sich die Rückständigkeit Russlands gegenüber „dem Wes-
ten" erklären, und welche Folgen hatte die nachholende Modernisierung, wie Ale-
xander Gerschenkron den russischen Weg in die Moderne charakterisiert hat?
1966 näherte er sich diesem Thema in einem Aufsatz, der zu den einfluss-
reichsten zur sozialgeschichtlichen Neubewertung der russischen Geschichte seit
dem 18. Jahrhundert gehören dürfte: „Gesellschaft" als staatliche Veranstaltung. Ihn hat
er in den Band Wirtschaft und Gesellschaft im vorrevolutionären Rußland (1975) aufge-
nommen, mit dem er der internationalen Forschung wichtige Studien aus West
und Ost zur Agrarverfassung, zur Industrialisierung und zur sozialen Revolutio-
nierung vor 1914 zur Verfügung stellte. Der gewichtigste eigene Beitrag zu diesem
Themenfeld ist sein Opus Magnum Der russische Imperialismus. Studien über den Zu-
sammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860-1914 (1977, 1987 englisch). Mit
ihm hat er ein Werk vorgelegt, das mit seinem komparatistischen Ansatz zur Er-
klärung des russischen Weges in die Moderne bis heute die Forschung beeinflusst.
Er setzt sich darin mit den russischen und sowjetischen sowie den „westlichen"
Versuchen, das Besondere am russischen Imperialismus zu klären, auseinander. Er
fragt nach „der Interdependenz von beschleunigtem sozioökonomischem Wandel
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