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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2023 — 2023(2024)

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Nachruf auf Dietrich Geyer

und expansionistischen Strategien" und nach den „systeminternen Funktionen im-
perialistischer Verhaltensmuster". Sein Begriff des „geborgten Imperialismus" will
auf die Unterschiede zum Kolonialismus der europäischen Großmächte aufmerk-
sam machen und dient dazu, die innerstaatlichen Kolonien Russlands vom Kolo-
nialregime in „Russisch-Asien" abzugrenzen. In der „unablässigen Beschwörung
,historischer Aufgaben' und ,heiliger Verpflichtungen'" entdeckte er „irrationale
Bedrohungsgefühle", die der russische Nationalismus „nach außen verlegt" und
„auf traditionelle Ziele gelenkt" habe, an denen „das russische Herz sich wärmen
sollte". Wenn man das heute liest, drängen sich Vergleiche zur Gegenwart auf.
Dazu ist Dietrich Geyer nicht mehr gekommen, doch Europäische Perspektiven
der Perestrojka (1991) und Die Umwertung der sowjetischen Geschichte (1991) seit der
Auflösung der Sowjetunion zu erhellen, hat er in zahlreichen Vorträgen und Stu-
dien unternommen. Die Perestrojka in der sowjetischen Geschichtswissenschaft (1991) zu
beurteilen, war er bestens vorbereitet, denn er hatte sich mit Lenins Geschichts-
deutung und seiner Politik ebenso intensiv befasst wie mit der vor- und nachre-
volutionären russischen Geschichte und Geschichtsschreibung. Der Heidelberger
Akademie hatte er in dieses Forschungsfeld 1984 mit seinem Vortrag Klio und die
sowjetische Geschichte einen Einblick geboten. Auch hier ging er vergleichend vor,
und stets blickte er auf die langen Entwicklungslinien. Um die Chancen der Pere-
strojka einzuschätzen, befragte er Die Idee der Freiheit in der osteuropäischen Geschich-
te (1991). Er betrachtete zunächst Polen und Ungarn, die baltischen Staaten und
„die tschechische Variante der Freiheitsgeschichte", um dann die „Freiheit in der
russischen Geschichte" als „das schwierigste und strittigste Problem" zu erörtern.
Eine Prognose wagte er damals nicht, doch er schloss seine Überlegungen mit der
Furcht, die Versuchung könnte übermächtig sein, die Bürde der Zukunftsaufga-
ben in einem „emotionalen Nationalismus aufzuheben, der die Völker Osteuropa
nicht zusammenführt, sondern sie in neuen und alten Fronten gegenüber stellt".
Diese Sorge trieb ihn auch um, als er 1991 die Perestrojka in der sowjetischen Ge-
schichtswissenschaft betrachtet hat. Er forderte sein Fach auf, diejenigen zu unterstüt-
zen, welche die Zukunft nicht in nationalstaatlichen oder imperialen Perspektiven
suchen.
In seinem letzten Buch Das russische Imperium. Von den Romanows bis zum Ende
der Sowjetunion (2020) lässt sich noch einmal nachvollziehen, wie er es verstand,
seine Hörer „durch Klarheit im Urteil und Schönheit der Sprache" in den Bann zu
ziehen. So charakterisiert diese Fähigkeit sein Schüler Jörg Baberowski im Nach-
wort zu diesem Werk, das er und Rainer Lindner aus Geyers letzten Vorlesungen
nach Audioaufzeichnungen erstellt haben. Hinzuzufügen ist, was er in seinem au-
tobiographischen Rückblick an Hermann Heimpel bewunderte, den er als Student
in Göttingen erlebt hatte - es durchzieht auch Geyers Schriften: „Reflexionen über
die Bindung des Menschen an seine jeweilige Gegenwart". Dies zeichnet seine
schmale, aber wirkungsvolle Studie Die Russische Revolution (1977, mehrere Auf-

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