Überlegungen zu Wissenszugang und Selbstverständnis 1 421
Wissenszugang über die ratio und der Wissenszugang über die Lebensform
standen in enger, freilich ambivalenter Beziehung zueinander, von Anfang an
sowohl konkurrierend als auch sich gegenseitig inspirierend. Ihr produktives
Spannungsverhältnis hat die vormoderne Geistesgeschichte meines Erachtens
enorm bereichert.
Als Antonius sich dem Tod nahefühlt, bestimmt er als seinen letzten Willen,
dass der Bischof Athanasius das Schaffell und den Mantel zurückerhalte, die er
ihm einst vor langer Zeit überlassen hatte. Der Mantel wird zu der geronnenen
Erinnerung für alles, wofür Antonius stand: „Denn wenn man die Kleidungs-
stücke nur ansieht so ist es, wie wenn man den Antonius sähe.23 Die bloße Erin-
nerung an Antonius, so Athanasius, ist ein großer und nützlicher Gewinn.
Diese Worte stehen, wie man seit langem weiß, in großer Tradition. Athana-
sius zitiert hier Sokrates, von dem es hieß: „Schon die Erinnerung an ihn bedeu-
tete keinen geringen Gewinn denen, die gewohnt waren, mit ihm zu verkeh-
ren"24. „Mit Antonius", so Walter Berschin, „ist wie mit Sokrates eine geistige
Welt entstanden".25 Ist das Innovation?
Gert Melville hat als Definition für die Einführung der hermeneutischen Ka-
tegorie „Innovation" für die monastische Forschung darauf verwiesen, dass In-
novation kein feststehender Begriff sei, aber eben diese ambivalente Struktur der
Unschärfe das Potential des Zugangs ausmache.26 Innovationen werden als kre-
ative Anstöße verstanden, die nicht den Erfinder oder die Erfinderin in das Zen-
trum stellen, sondern durch ihre spätere Geltungskraft definiert sind, gedankli-
ches Neuland also - wodurch sich neue Normen und Denkdimensionen
menschlichen Handelns durchsetzen. Das Innovationskonzept von Rainer
Christoph Schwinges sieht dagegen interessanterweise eine Kombination von
vier Kriterien vor, nämlich 1. universitäre Bildung, 2. Entstehung von moderner
Verwaltung, 3. Entwicklung von Gewerben und 4. Kommunikation und Ver-
kehrswesen. 27 Dieser Innovationsbegriff ist von dem modernen Verständnis
von Fortschritt im Sinne gesteigerter Effektivität geprägt. Diesem Innovations-
begriff kann die über die Antoniusvita des Athanasius vermittelte neue Lebens-
form nicht entsprechen.
23 Leben des heiligen Antonius (wie Anm. 6), S. 774.
24 Berschin, Biographie (wie Anm. 3). S. 120.
25 Ebd.
26 Gert Melville, Innovation im Diskurs. Ein Vorwort, in Denkströme. Journal der Sächsi-
schen Akademie der Wissenschaften 17 (2017), S. 11-18, hier S. 12. Online unter http://repo.
saw-leipzig.de:80/pubman/item/escidoc:43076/component/escidoc:43073/denkstroeme-
heftl7_ll-18_melville.pdf (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).
27 Innovationsräume. Woher das Neue kommt - in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von Rai-
ner C. SCHWINGES/Paul MESSERLi/Tamara Münger, Zürich 2001, S. 33.
Wissenszugang über die ratio und der Wissenszugang über die Lebensform
standen in enger, freilich ambivalenter Beziehung zueinander, von Anfang an
sowohl konkurrierend als auch sich gegenseitig inspirierend. Ihr produktives
Spannungsverhältnis hat die vormoderne Geistesgeschichte meines Erachtens
enorm bereichert.
Als Antonius sich dem Tod nahefühlt, bestimmt er als seinen letzten Willen,
dass der Bischof Athanasius das Schaffell und den Mantel zurückerhalte, die er
ihm einst vor langer Zeit überlassen hatte. Der Mantel wird zu der geronnenen
Erinnerung für alles, wofür Antonius stand: „Denn wenn man die Kleidungs-
stücke nur ansieht so ist es, wie wenn man den Antonius sähe.23 Die bloße Erin-
nerung an Antonius, so Athanasius, ist ein großer und nützlicher Gewinn.
Diese Worte stehen, wie man seit langem weiß, in großer Tradition. Athana-
sius zitiert hier Sokrates, von dem es hieß: „Schon die Erinnerung an ihn bedeu-
tete keinen geringen Gewinn denen, die gewohnt waren, mit ihm zu verkeh-
ren"24. „Mit Antonius", so Walter Berschin, „ist wie mit Sokrates eine geistige
Welt entstanden".25 Ist das Innovation?
Gert Melville hat als Definition für die Einführung der hermeneutischen Ka-
tegorie „Innovation" für die monastische Forschung darauf verwiesen, dass In-
novation kein feststehender Begriff sei, aber eben diese ambivalente Struktur der
Unschärfe das Potential des Zugangs ausmache.26 Innovationen werden als kre-
ative Anstöße verstanden, die nicht den Erfinder oder die Erfinderin in das Zen-
trum stellen, sondern durch ihre spätere Geltungskraft definiert sind, gedankli-
ches Neuland also - wodurch sich neue Normen und Denkdimensionen
menschlichen Handelns durchsetzen. Das Innovationskonzept von Rainer
Christoph Schwinges sieht dagegen interessanterweise eine Kombination von
vier Kriterien vor, nämlich 1. universitäre Bildung, 2. Entstehung von moderner
Verwaltung, 3. Entwicklung von Gewerben und 4. Kommunikation und Ver-
kehrswesen. 27 Dieser Innovationsbegriff ist von dem modernen Verständnis
von Fortschritt im Sinne gesteigerter Effektivität geprägt. Diesem Innovations-
begriff kann die über die Antoniusvita des Athanasius vermittelte neue Lebens-
form nicht entsprechen.
23 Leben des heiligen Antonius (wie Anm. 6), S. 774.
24 Berschin, Biographie (wie Anm. 3). S. 120.
25 Ebd.
26 Gert Melville, Innovation im Diskurs. Ein Vorwort, in Denkströme. Journal der Sächsi-
schen Akademie der Wissenschaften 17 (2017), S. 11-18, hier S. 12. Online unter http://repo.
saw-leipzig.de:80/pubman/item/escidoc:43076/component/escidoc:43073/denkstroeme-
heftl7_ll-18_melville.pdf (zuletzt abgerufen am 08.10.2020).
27 Innovationsräume. Woher das Neue kommt - in Vergangenheit und Gegenwart, hg. von Rai-
ner C. SCHWINGES/Paul MESSERLi/Tamara Münger, Zürich 2001, S. 33.