Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0054
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
28 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

sundheit: und wer diesen dreien zugleich wieder von Grund aus aufhelfen will,
muß sich auf eine langwierige Cur gefaßt machen“ (NL 1880, 3 [1], KSA 9, 47).
Konträr zur Radikalität dieser späten Selbstkritik hatte N. sechs Jahre frü-
her, am 1. April 1874, Carl von Gersdorff brieflich bekannt, „wie verzagt und
melancholisch ich im Grunde von mir selbst, als producirendem Wesen, den-
ke! Ich suche weiter nichts als etwas Freiheit, etwas wirkliche Luft des Lebens
und wehre mich, empöre mich gegen das viele, unsäglich viele Unfreie, was
mir anhaftet. Von einem wirklichen Produciren kann aber gar nicht geredet
werden, so lange man noch so wenig aus der Unfreiheit, aus dem Leiden und
Lastgefühl des Befangenseins heraus ist: werde ich’s je erreichen? Zweifel über
Zweifel“ (KSB 4, Nr. 356, S. 214). Acht Jahre später hingegen erklärt er Elise
Fincke am 20. März 1882 mit dem Selbstbewusstsein des bereits arrivierten Au-
tors nicht ohne Koketterie: „Sie haben noch Alles von mir zu lesen. Jene unzeit-
gemässen Betrachtungen rechne ich als Jugendschriften: Da machte ich eine
vorläufige Abrechnung mit dem was mich am meisten bis dahin im Leben ge-
hemmt und gefördert hatte, da versuchte ich von Einigem loszukommen, da-
durch dass ich es verunglimpfte oder verherrlichte wie es die Art der Jugend
ist -: Ach die Dankbarkeit im Guten und Bösen hat mir immer viel zu schaffen
gemacht! Immerhin - ich habe einiges Vertrauen in Folge dieser Erstlinge ein-
geerntet, auch bei Ihnen und den ausgezeichneten Genossen Ihrer Studien! All
dies Vertrauen werden Sie nöthig haben um mir auf meinen neuen und nicht
ungefährlichen Wegen zu folgen und zuletzt - wer weiss? wer weiss? - halten
auch Sie es nicht mehr aus und sagen was schon mancher gesagt hat: Mag er
laufen wohin ihm beliebt und sich den Hals brechen wenn’s ihm beliebt“
(KSB 6, Nr. 212, S. 181).
Drei oder vier Jahre später äußert sich N. in einem zwischen Herbst 1885
und Herbst 1886 verfassten nachgelassenen Notat zunächst selbstkritisch über
die Titelwahl für seine vier Unzeitgemässen Betrachtungen, relativiert seine
skeptische Perspektive dann allerdings sogleich durch einen avantgardisti-
schen Anspruch, indem er selbstbewusst konstatiert: „Wenn ich einstmals das
Wort,unzeitgemäß4 auf meine Bücher geschrieben habe, wie viel Jugend, Uner-
fahrenheit, Winkel drückt sich in diesem Worte aus! Heute begreife ich, daß
mit dieser Art Klage Begeisterung und Unzufriedenheit ich eben damit zu den
Modernsten der Modernen gehörte“ (NL 1885-1886, 2 [201], KSA 12, 165).
Die selbstkritischen Einsichten zum jugendlichen Gestus der Unzeitgemäs-
sen Betrachtungen, die N. in verschiedenen Schaffensphasen formuliert, hin-
dern ihn allerdings nicht daran, 1888/89 in seinem Spätwerk Ecce homo von
dem „prachtvoll[en]“ Echo zu schwärmen, das er mit dem ersten von den „vier
Attentaten“ seiner Unzeitgemässen Betrachtungen ausgelöst habe (KSA 6, 317,
7-9). - Einen anderen, nämlich zeitkritischen Akzent setzt N. allerdings in Ecce
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften