Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0055
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Überblickskommentar, Kapitel 1.4: Selbstaussagen Nietzsches 29

homo, wenn er sich mit der Behauptung zu rechtfertigen versucht, er „greife
nie Personen an“, sondern bediene sich ihrer „nur wie eines starken Vergrösse-
rungsglases, mit dem man einen allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig
greifbaren Nothstand sichtbar machen kann“ (KSA 6, 274, 28-32). Diese Strate-
gie exemplifiziert N. rückblickend mit seiner Attacke auf David Friedrich
Strauß, die in dieser Hinsicht nun einen repräsentativen Charakter erhalten
soll: „So griff ich David Strauss an, genauer den Erfolg eines altersschwachen
Buchs bei der deutschen ,Bildung4, - ich ertappte diese Bildung dabei auf der
That ...“ (KSA 6, 274, 32-34).
Radikaler begründet N. seine Polemik gegen Strauß 1885 in einem Nach-
lass-Notat, in dem er sie sogar in doppelter Hinsicht zu legitimieren versucht -
erstens erneut mit militanten Vorstellungen und zweitens mit einer Art von
Sterbensreife, die er Strauß und den von ihm vertretenen Überzeugungen attes-
tiert: „Man rückt mir vor, ich hätte früher den alten David Strauß ,umge-
bracht4? Ich werde wohl noch andere Menschenleben auf dem Gewissen ha-
ben - aber so bringt es Krieg und Sieg mit sich. Ein Ding, das zum Sterben reif
ist: wozu dergleichen noch künstlich pflegen, schonen und einwickeln? An
den deutschen Bildungs-Zuständen aber will nichts geschont sein: das ist
,reif4.44 (NL 1885, 41 [8], KSA 11, 682.)
In der Textpassage von Ecce homo, die unter dem Titel „Die Unzeitgemäs-
sen“ (KSA 6, 316-321) rückblickend auch auf UB I DS Bezug nimmt, konstatiert
N.: „Und wie ich mir meinen Gegner gewählt hatte! den ersten deutschen Frei-
geist!... In der That, eine ganz neue Art Freigeisterei kam damit zum ersten
Ausdruck: bis heute ist mir Nichts fremder und unverwandter als die ganze
europäische und amerikanische Species von ,libres penseurs4.“ (KSA 6, 319, 6-
10.) N. verspottet den Idealismus dieser „libres penseurs“, um deren Mentalität
dann mit Nachdruck sein eigenes Selbstverständnis entgegenzuhalten: „Ich
bin der erste Immoralist“ (KSA 6, 319,17). - Die entschiedene Distanzierung
von Freigeistern wie David Friedrich Strauß, den N. in Ecce homo als paradig-
matischen Fall von ,Freigeisterei4 charakterisiert, erscheint erstaunlich, und
zwar gerade deshalb, weil die Idealvorstellung von einem ,freien Geist4, der
sich im Sinne aufklärerischer Prinzipien von den Fesseln traditioneller Normen
löst, in der Philosophie N.s von zentraler Bedeutung ist.
Dass dieser Anspruch in N.s CEuvre bereits während der Frühphase seines
Schaffens Ausdruck gefunden hat, zeigen Textstellen in Schopenhauer als Er-
zieher, der dritten der Unzeitgemässen Betrachtungen: Denn hier formuliert N.
seine Intention, „die freien Geister und die tief an unsrer Zeit Leidenden mit
Schopenhauer bekannt zu machen“ (KSA 1, 407, 7-8). Das Hauptanliegen „die-
se [r] Einsamen und Freien im Geiste“ sieht er in UB III SE darin, dass sie
„nichts als Wahrheit und Ehrlichkeit wollen“ (KSA 1, 354, 13-16). Wie sehr der
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften