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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0087
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Überblickskommentar, Kapitel 1.8: Struktur von UB I DS 61

Stile“ mit Elementen „aller Zeiten und aller Zonen“ bestimmt, also von einer
„Barbarei“, für die der Gegensatz zur „Kultur“ charakteristisch ist (163). N.
konstatiert ein fundamentales Defizit: „bis jetzt giebt es keine deutsche origi-
nale Kultur“ (164).

2.
Im 2. Kapitel (164-173) stellt N. fest, nur sehr wenige Zeitgenossen seien dazu
imstande, das Vorhandensein dieses „offenkundigen Defektes“ (164) zu diag-
nostizieren: Laut N. sind es am ehesten die „grossen Künstler“, während die
„Gebildeten“ (164) zu einer mit Illusionen verbundenen Selbstzufriedenheit
tendieren. Das Fehlen „einer productiven und stilvollen Kultur“ (164) in
Deutschland bleibt nach N.s Auffassung deshalb unbemerkt, weil die zur
Machtinstanz avancierten „Bildungsphilister“ (165) ein Meinungsmono-
pol „über alle deutschen Kulturprobleme“ (167) für sich beanspruchen. Das
von Ignoranz zeugende Selbstbild des ,Bildungsphilisters4 besteht in dem
„Aberglauben“, selbst „Musensohn und Kulturmensch“ sowie „der würdige
Vertreter der jetzigen deutschen Kultur“ zu sein (165).
Von der nur vordergründigen Homogenität, an der die Mentalität der soge-
nannten „Gebildeten“ zu erkennen ist, grenzt N. die genuine „Einheit des Sti-
les“ ab, welche die „wahre Kultur“ charakterisiert (165). Sie unterscheidet sich
grundlegend vom Gestus der Philister, die im Medium einer „stilisirten Barba-
rei“ einheitliche Grundmuster bloß suggerieren (166). Während der Philister als
„negatives Wesen“ (166) das produktive Engagement der Kulturschaffenden
behindert (166-167), erweisen sich die „heroischen Gestalten“ der deutschen
Kultur selbst als „Suchende“ (167). Insofern entsprechen sie nicht dem sak-
rosankten Bild von den angeblich immer schon fertigen „Klassiker[n]“ (168),
deren Werke den geistig Bequemen zu harmloser ,Erbauung4 dienen (168).
Nach dem kulturellen Pluralismus am Anfang des 19. Jahrhunderts, der zu Irri-
tation und Desorientierung führte, sieht N. das beschauliche „Philisterglück“
(168) durch die Illusion bedingt, man habe das eigentlich erst zu Suchende
längst gefunden. Auf diese Weise verschaffen sich die Philister die Möglichkeit,
sich im Refugium der „Beschränktheit“ einzurichten (169), und verweigern sich
zugleich permanent jener ernsthaften Suche, die nach N.s Ansicht allein als
produktive Klassiker-Nachfolge gelten kann (168).
Als weitere Strategien der Bildungsphilister zur Sicherung der eigenen Be-
haglichkeit beschreibt N. die Kultivierung idyllischer Lebensräume, die Ver-
wandlung von Unruhe stiftenden Wissenschaften in „historische Disciplinen“
und das zur Abwehr unbequemer Neuerungen funktionalisierte „Verdikt ,Epi-
 
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