Stellenkommentar UB I DS 1, KSA 1, S. 161 83
auf ästhetische Harmonisierung fixierten Klassizismus, in der Tätigkeit philolo-
gischer „Sprachmikroskopiker“ (KSA 1,130,13) sowie in Tendenzen zu historis-
tischer Archivierung der Antike und zu journalistischen Metamorphosen der
Kultur in unverbindlich-verspielte „Eleganz“ erblickt (vgl. KSA 1, 130, 1-25).
Solchen Symptomen einer zu bloßer ,Gebildetheit4 degenerierten ,Bildung4 hält
N. in der Geburt der Tragödie das Postulat einer Wiederbelebung „des dionysi-
schen Geistes“ entgegen (KSA 1, 130, 29), die sich für ihn mit der Hoffnung auf
„eine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes durch den Feuerzau-
ber der Musik“ Wagners verbindet (KSA 1, 131, 18-19). Mit dieser suggestiven
Metaphorik, die auf ein wichtiges Motiv aus Richard Wagners Oper Die Walküre
anspielt (vgl. dazu NK 438, 4), exponiert N. in der Geburt der Tragödie eine
vitale Elementargewalt, von deren Urkraft er sich die Entfernung „alles Abge-
lebte [n], Zerbrochene [n], Verkümmerte [n]44 (KSA 1, 132, 1-2) und damit eine
Überwindung „der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur“ (KSA 1, 131,
20) und ihrer philiströsen ,Gebildetheit4 verspricht. Dabei verstand N. schon
1870/71 „Deutschland als das rückwärtsschreitende Griechenland“ (NL 1870-
71, 5 [23], KSA 7, 97).
Analog zu Richard Wagner kritisiert N. die „Gebildeten“ auch in UB IV WB
als Vertreter einer degenerierten Kultur. Entschieden wendet er sich hier „ge-
gen das wuchernde und unterdrückende Um-sich-greifen der heutigen Gebil-
detheit“ (KSA 1, 450, 6-7), erblickt im Typus des sogenannten „Gebildeten“
den großen „Feind“ Bayreuths (KSA 1, 450, 8-9) und spricht sogar vom „wider-
lichen Götzendienste der modernen Bildung“ (KSA 1, 434, 9-10), mit dem er
die durch Wagner vermittelte Kunst-Religion kontrastiert. An dieser Stelle sus-
pendiert N. erneut die Opposition von genuiner ,Bildung4 und bloßer Gebildet-
heit4, indem er stattdessen eine (pejorativ gemeinte) Affinität zwischen den Be-
griffen herstellt. Erklären lässt sich diese terminologische Akzentverschiebung
damit, dass N. dort - ähnlich wie bereits in der Geburt der Tragödie - eine
Tendenz zum Antirationalismus kultiviert, die auch an Wagners musikästheti-
sche Präferenzen anknüpft. So kontrastiert Wagner beispielsweise in seiner
Schrift Oper und Drama die bloß angeeignete ,Bildung4 mit der genuinen natür-
lichen Empfindung, indem er erklärt: „Unter dem Publikum verstehe ich nur
die Gesammtheit der Zuschauer, denen ohne spezifisch gebildeten Kunstver-
stand das vorgeführte Drama zum vollständigen, gänzlich mühelosen
G e f ü h 1 s verständniß kommen soll“ (GSD IV, 222-223, Anm.). Einschätzungen
dieser Art folgt N., wenn er in UB IV WB konstatiert, Wagners Kunst sei weit
entfernt vom „Dunstkreis der Gelehrten“ (KSA 1, 503, 3) und hebe „den Gegen-
satz von Gebildeten und Ungebildeten“ auf (KSA 1, 505,11-12). In diesem Sinne
rekurriert N. auf Wagners Polemik gegen die „Gebildeten“ auch mit der Inten-
tion, die Gegner von dessen Musik zu attackieren. Dabei fokussiert N. seine auf
auf ästhetische Harmonisierung fixierten Klassizismus, in der Tätigkeit philolo-
gischer „Sprachmikroskopiker“ (KSA 1,130,13) sowie in Tendenzen zu historis-
tischer Archivierung der Antike und zu journalistischen Metamorphosen der
Kultur in unverbindlich-verspielte „Eleganz“ erblickt (vgl. KSA 1, 130, 1-25).
Solchen Symptomen einer zu bloßer ,Gebildetheit4 degenerierten ,Bildung4 hält
N. in der Geburt der Tragödie das Postulat einer Wiederbelebung „des dionysi-
schen Geistes“ entgegen (KSA 1, 130, 29), die sich für ihn mit der Hoffnung auf
„eine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes durch den Feuerzau-
ber der Musik“ Wagners verbindet (KSA 1, 131, 18-19). Mit dieser suggestiven
Metaphorik, die auf ein wichtiges Motiv aus Richard Wagners Oper Die Walküre
anspielt (vgl. dazu NK 438, 4), exponiert N. in der Geburt der Tragödie eine
vitale Elementargewalt, von deren Urkraft er sich die Entfernung „alles Abge-
lebte [n], Zerbrochene [n], Verkümmerte [n]44 (KSA 1, 132, 1-2) und damit eine
Überwindung „der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur“ (KSA 1, 131,
20) und ihrer philiströsen ,Gebildetheit4 verspricht. Dabei verstand N. schon
1870/71 „Deutschland als das rückwärtsschreitende Griechenland“ (NL 1870-
71, 5 [23], KSA 7, 97).
Analog zu Richard Wagner kritisiert N. die „Gebildeten“ auch in UB IV WB
als Vertreter einer degenerierten Kultur. Entschieden wendet er sich hier „ge-
gen das wuchernde und unterdrückende Um-sich-greifen der heutigen Gebil-
detheit“ (KSA 1, 450, 6-7), erblickt im Typus des sogenannten „Gebildeten“
den großen „Feind“ Bayreuths (KSA 1, 450, 8-9) und spricht sogar vom „wider-
lichen Götzendienste der modernen Bildung“ (KSA 1, 434, 9-10), mit dem er
die durch Wagner vermittelte Kunst-Religion kontrastiert. An dieser Stelle sus-
pendiert N. erneut die Opposition von genuiner ,Bildung4 und bloßer Gebildet-
heit4, indem er stattdessen eine (pejorativ gemeinte) Affinität zwischen den Be-
griffen herstellt. Erklären lässt sich diese terminologische Akzentverschiebung
damit, dass N. dort - ähnlich wie bereits in der Geburt der Tragödie - eine
Tendenz zum Antirationalismus kultiviert, die auch an Wagners musikästheti-
sche Präferenzen anknüpft. So kontrastiert Wagner beispielsweise in seiner
Schrift Oper und Drama die bloß angeeignete ,Bildung4 mit der genuinen natür-
lichen Empfindung, indem er erklärt: „Unter dem Publikum verstehe ich nur
die Gesammtheit der Zuschauer, denen ohne spezifisch gebildeten Kunstver-
stand das vorgeführte Drama zum vollständigen, gänzlich mühelosen
G e f ü h 1 s verständniß kommen soll“ (GSD IV, 222-223, Anm.). Einschätzungen
dieser Art folgt N., wenn er in UB IV WB konstatiert, Wagners Kunst sei weit
entfernt vom „Dunstkreis der Gelehrten“ (KSA 1, 503, 3) und hebe „den Gegen-
satz von Gebildeten und Ungebildeten“ auf (KSA 1, 505,11-12). In diesem Sinne
rekurriert N. auf Wagners Polemik gegen die „Gebildeten“ auch mit der Inten-
tion, die Gegner von dessen Musik zu attackieren. Dabei fokussiert N. seine auf