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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0108
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82 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Basler Professur abzuwerfen, um einen „Bruch mit der bisherigen Philologie
und ihrer Bildungsperspektive“ zu vollziehen (KSB 3, Nr. 113, S. 165) und
stattdessen produktiv an deutsch-hellenischen Kultursynthesen mitzuwirken.
N.s Absicht, mit gleichgesinnten Freunden „eine neue griechische Akade-
mie“ zu gründen und diese mit dem „Baireuther Plan W a g n e r s“ zu verbinden
(KSB 3, Nr. 113, S. 165), signalisiert - schon mehrere Jahre vor der Konzeption
von UB I DS - eine tiefreichende Resignation des philologischen Gelehrten N.,
der offenbar keine Perspektive sieht, im eigenen Terrain die Problematik einer
statisch-sterilen „Gebildetheit“ überwinden und den Ansprüchen einer genui-
nen „Bildung“ Geltung verschaffen zu können.
Trotz seiner Skepsis gegenüber philologischer , Gebildetheit4 gibt es selbst
hier noch thematische Kontinuitäten zu den Unzeitgemässen Betrachtungen,
die über die Bildungsansprüche der Antike konstituiert sind und insofern doch
einen Zusammenhang mit N.s eigener Philologen-Existenz erkennen lassen. So
grenzt er sich 1872 im zweiten seiner nachgelassenen Vorträge Ueber die Zu-
kunft unserer Bildungsanstalten dezidiert vom Fortschrittsoptimismus seiner
Zeitgenossen ab, wenn er die Überlegenheit der antiken Erziehung und Bil-
dung im Vergleich mit der Misere der zeitgenössischen Pädagogik und Univer-
sitätskultur behauptet. Entschieden kritisiert N. in diesem Vortrag die „lauten
Herolde des Bildungsbedürfnisses“; diese sieht er selbst - entgegen ihrer Pro-
grammatik - als „eifrige, ja fanatische Gegner der wahren Bildung“ agieren,
die seines Erachtens „an der aristokratischen Natur des Geistes festhält: denn
im Grunde“ beabsichtigen sie „die Emancipation der Massen von der Herr-
schaft der großen Einzelnen“ und wollen dadurch die Dominanz „des Genius“
brechen (KSA 1, 698, 8-17). Im fünften seiner nachgelassenen Vorträge Ueber
die Zukunft unserer Bildungsanstalten kritisiert N. die Strategie der „Jünger der
Jetztzeit4“, den „naturgemäßen philosophischen Trieb durch die sogenannte
historische Bildung4 zu paralysiren“ (KSA 1, 742, 11-14). Diese Argumenta-
tionslinie führt N. dann in UB II HL fort, wo er die problematischen Folgen
einer historisierenden Bildungskultur zum Zentralthema avancieren lässt. Ähn-
lich wie in UB I DS polemisiert N. auch in den Fünf Vorreden zu fünf ungeschrie-
benen Büchern gegen die „Gebildeten“ und die „Philister“ (KSA 1, 779,
34 - 780, 2).
Vor der Konzeption der Unzeitgemässen Betrachtungen hatte N. die Thema-
tik der Bildung bereits im 20. Kapitel der Geburt der Tragödie intensiv traktiert.
Vgl. dazu insbesondere KSA 1, 129, 10 - 131, 4 und den Überblickskommentar
von Jochen Schmidt in NK1/1, 360-368. In GT 20 stellt N. dem auf Synthesen
zwischen deutscher und griechischer Kultur zielenden „edelsten Bildungs-
kampfe Goethe’s, Schiller’s und Winckelmann’s“ (KSA 1, 129, 14-15) die zeitge-
nössischen Depravationen des Bildungsanspruchs gegenüber, die er in einem
 
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