Stellenkommentar UB I DS 1, KSA 1, S. 161 81
geschichtlichen Dimension fort. Allerdings verlagert er die entscheidende Dif-
ferenzierung hier in den Bildungsbegriff selbst, wenn er die „historische Bil-
dung“ als „eine Art angeborener Grauhaarigkeit“ bezeichnet (KSA 1, 303, 21-
23), die durch eine retrospektive Haltung gekennzeichnet sei und „Trost [...] im
Gewesenen“ suche (KSA 1, 303, 27). Diese Art von zukunftsabgewandter bloßer
Rückschau auf die Kulturgeschichte kontrastiert N. in UB II HL mit einer „rei-
chen und lebensvollen Bildung“ (KSA 1, 307, 12-13), die Impulse für
künftige Entwicklungen zu geben vermag - eines von zahlreichen Indizien
auch für die Variabilität von N.s Terminologie. Denn in diesem Sinne ent-
spricht die „historische Bildung“ dem, was N. im vorliegenden Kontext von
UB I DS als bloße statische „Gebildetheit“ von einer lebendig-dynamischen
„Bildung“ abgrenzt. (Beweglich erscheint die Terminologie des jungen N. auch
in anderen begrifflichen Kontexten: Dies gilt etwa für seinen uneindeutigen
Begriff des Theoretischen in der Geburt der Tragödie; vgl. dazu NK 1/1, 349.)
Kontinuität weisen die kulturkritischen Diagnosen in den Unzeitgemässen
Betrachtungen auch insofern auf, als N. das in UB I DS exponierte Spannungs-
verhältnis zwischen statischer „Gebildetheit“ und dynamischer „Bildung“ in
UB III SE unter Rückgriff auf Schopenhauers Gegenüberstellung von sterilen
Philosophieprofessoren und kreativen Philosophen reflektiert und zugleich
spezifiziert. Auch dort dominiert der Kontrast zwischen geistiger Flexibilität
und intellektueller Dynamik mit zukunftsweisendem Potential einerseits und
einer philiströsen Erstarrung in bornierter Selbstzufriedenheit andererseits, die
N. in UB III SE dem Habitus der Gebildeten und Gelehrten zuordnet. Dabei
zeichnen sich deutliche Affinitäten zu Einschätzungen Schopenhauers ab, der
unter den Prämissen seines prononcierten Geistesaristokratismus erklärt: „Ei-
gentliche Bildung, bei welcher Erkenntniß und Urtheil Hand in Hand gehn,
kann nur Wenigen zugewandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie auf-
zunehmen. Für den großen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrich-
tung“ (WWVII, Kap. 6, Hü 74). Zu den Implikationen des Geistesaristokratis-
mus bei N. und Schopenhauer vgl. NK338, 5-7 sowie NK366, 30-31 und
NK 382, 4-9.
In N.s Frühwerk spielt bei der Polemik gegen sterile „Gebildetheit“ und
gegen den sie repräsentierenden Typus des Gelehrten zugleich auch ein biogra-
phischer Faktor eine wesentliche Rolle: seine wachsenden Vorbehalte gegen-
über dem eigenen Berufsstand des Altphilologen. Wie wichtig es N. schon Jah-
re vor der Konzeption seiner Unzeitgemässen Betrachtungen geworden war,
sich selbst aus Überdruss am Philologen-Beruf in den Dienst von Wagners kul-
turreformatorischem Großprojekt zu stellen, erhellt daraus, dass er - bereits
anderthalb Jahre nach Amtsantritt an der Universität Basel - am 15. Dezember
1870 in einem Brief an Erwin Rohde den Wunsch artikuliert, das „Joch“ seiner
geschichtlichen Dimension fort. Allerdings verlagert er die entscheidende Dif-
ferenzierung hier in den Bildungsbegriff selbst, wenn er die „historische Bil-
dung“ als „eine Art angeborener Grauhaarigkeit“ bezeichnet (KSA 1, 303, 21-
23), die durch eine retrospektive Haltung gekennzeichnet sei und „Trost [...] im
Gewesenen“ suche (KSA 1, 303, 27). Diese Art von zukunftsabgewandter bloßer
Rückschau auf die Kulturgeschichte kontrastiert N. in UB II HL mit einer „rei-
chen und lebensvollen Bildung“ (KSA 1, 307, 12-13), die Impulse für
künftige Entwicklungen zu geben vermag - eines von zahlreichen Indizien
auch für die Variabilität von N.s Terminologie. Denn in diesem Sinne ent-
spricht die „historische Bildung“ dem, was N. im vorliegenden Kontext von
UB I DS als bloße statische „Gebildetheit“ von einer lebendig-dynamischen
„Bildung“ abgrenzt. (Beweglich erscheint die Terminologie des jungen N. auch
in anderen begrifflichen Kontexten: Dies gilt etwa für seinen uneindeutigen
Begriff des Theoretischen in der Geburt der Tragödie; vgl. dazu NK 1/1, 349.)
Kontinuität weisen die kulturkritischen Diagnosen in den Unzeitgemässen
Betrachtungen auch insofern auf, als N. das in UB I DS exponierte Spannungs-
verhältnis zwischen statischer „Gebildetheit“ und dynamischer „Bildung“ in
UB III SE unter Rückgriff auf Schopenhauers Gegenüberstellung von sterilen
Philosophieprofessoren und kreativen Philosophen reflektiert und zugleich
spezifiziert. Auch dort dominiert der Kontrast zwischen geistiger Flexibilität
und intellektueller Dynamik mit zukunftsweisendem Potential einerseits und
einer philiströsen Erstarrung in bornierter Selbstzufriedenheit andererseits, die
N. in UB III SE dem Habitus der Gebildeten und Gelehrten zuordnet. Dabei
zeichnen sich deutliche Affinitäten zu Einschätzungen Schopenhauers ab, der
unter den Prämissen seines prononcierten Geistesaristokratismus erklärt: „Ei-
gentliche Bildung, bei welcher Erkenntniß und Urtheil Hand in Hand gehn,
kann nur Wenigen zugewandt werden, und noch Wenigere sind fähig sie auf-
zunehmen. Für den großen Haufen tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrich-
tung“ (WWVII, Kap. 6, Hü 74). Zu den Implikationen des Geistesaristokratis-
mus bei N. und Schopenhauer vgl. NK338, 5-7 sowie NK366, 30-31 und
NK 382, 4-9.
In N.s Frühwerk spielt bei der Polemik gegen sterile „Gebildetheit“ und
gegen den sie repräsentierenden Typus des Gelehrten zugleich auch ein biogra-
phischer Faktor eine wesentliche Rolle: seine wachsenden Vorbehalte gegen-
über dem eigenen Berufsstand des Altphilologen. Wie wichtig es N. schon Jah-
re vor der Konzeption seiner Unzeitgemässen Betrachtungen geworden war,
sich selbst aus Überdruss am Philologen-Beruf in den Dienst von Wagners kul-
turreformatorischem Großprojekt zu stellen, erhellt daraus, dass er - bereits
anderthalb Jahre nach Amtsantritt an der Universität Basel - am 15. Dezember
1870 in einem Brief an Erwin Rohde den Wunsch artikuliert, das „Joch“ seiner