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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0110
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84 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Überwindung der zeitgenössischen Kulturkrise gerichteten Zukunftshoffnun-
gen auf eine an Wagners Konzepte anknüpfende emphatische Kulturutopie,
die er in späteren Jahren dann allerdings nachhaltig revidiert, etwa im „Ver-
such einer Selbstkritik“ (vgl. KSA 1, 20, 22-24).
In der 1872 verfassten Vorrede für seine fünf Vorträge Ueber die Zukunft
unserer Bildungsanstalten suspendiert N. die Differenz zwischen genuiner Bil-
dung4 und bloßer ,Gebildetheit4 in anderer Hinsicht als in GT und in UB IV WB,
nämlich unter der Prämisse eines sokratischen ,Nichtswissens4, die allerdings
zugleich durch einen zeitgenössischen Antirationalismus transformiert er-
scheint: Vom Leser verlangt N. dort, „daß er auf keinen Fall, nach Art des
modernen Menschen, sich selbst und seine Bildung unausgesetzt dazwischen
bringen darf, gleichsam als ein sicheres Maaß und Kriterium aller Dinge. Wir
wünschen vielmehr, er möge gebildet genug sein, um von seiner Bildung recht
gering, ja verächtlich zu denken; dann dürfte er wohl am zutraulichsten sich
der Führung des Verfassers überlassen, der es nur gerade von dem Nichtswis-
sen und dem Wissen des Nichtswissens aus wagen durfte, so zu ihm zu reden.
Nichts anderes will er eben für sich in Anspruch nehmen, als ein stark entzün-
detes Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen deutschen Barbarei,
für das, was uns als Barbaren des neunzehnten Jahrhunderts so merkwürdig
von den Barbaren anderer Zeiten unterscheidet“ (KSA 1, 649, 33 - 650, 11).
161, 24-25 nach solchen „Erfolgen der deutschen Kultur“] Hier kulminieren zu-
nächst die mit 160, 3 beginnenden und dann leitmotivisch durchgeführten Dar-
legungen zur „Kultur“. Sie münden am Ende dieses 1. Kapitels in die Forderung
nach einem „reinen Begriff der Kultur“ (163, 2) und „einer originalen deut-
schen Kultur“ (163, 34 - 164, 1). Im Anschluss daran konstatiert N. mit Bedau-
ern: „bis jetzt giebt es keine deutsche originale Kultur“ (164, 4-5). Schon in
der Geburt der Tragödie ist „Cultur“ ein immer wieder exponiertes Schlagwort,
vor allem im 18. Kapitel. Den Hintergrund für N.s Kulturkonzept bildet der kul-
turreformatorische Anspruch Wagners. Indem N. mit Anführungszeichen von
den „Erfolgen der deutschen Kultur“ spricht, markiert er ein Schlagwort der
öffentlichen Meinung und signalisiert im Sinne der unzeitgemäßen4 Betrach-
tungen zugleich seine distanzierte Einstellung dazu. Hier ergeben sich gewisse
thematische Kontinuitäten, durch sich der kulturkritische Impetus der Tragödi-
enschrift, in der N. auch bereits Depravationsformen einer nur noch „soge-
nannten Bildung“ reflektiert (KSA 1, 131, 30), in die Unzeitgemässen Betrach-
tungen prolongiert. Vgl. dazu auch NK161, 2-3.
162, 32 die macedonischen Heere] Philipp II. (382-336 v. Chr.), der Vater von
Alexander dem Großen, verschaffte Makedonien durch mehrere Kriege die He-
gemonie über Griechenland, die im Korinthischen Bund von 337 v. Chr. fixiert
 
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