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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0115
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Stellenkommentar UB I DS 2, KSA 1, S. 165 89

und Verkehrte Welt (1800), die auch Schopenhauer rezipierte, den Begriff des
„Philisters“. Als zentrales Dokument für die Auseinandersetzung der Romanti-
ker mit dem Typus des Philisters gilt Clemens Brentanos „scherzhafte Abhand-
lung“ Der Philister vor, in und nach der Geschichte, die 1811 erschien. Joseph
Freiherr von Eichendorff verfasste um 1820 das satirische Drama Krieg den Phi-
listern. Dramatisches Mährchen in fünf Abentheuern (Berlin 1824). In seinem
späten Aufsatz Die geistliche Poesie in Deutschland definierte Eichendorff den
Begriff folgendermaßen: „ein Philister ist, wer mit Nichts geheimnisvoll und
wichtig tut, wer die hohen Dinge materialistisch und also gemein ansieht, wer
sich selbst als goldenes Kalb in die Mitte der Welt setzt und es ehrfurchtsvoll
anbetend umtanzt“ (Eichendorff: FA, Bd. VI, 367). Mit dieser älteren Bedeutung
verwendete sogar der von N. attackierte David Friedrich Strauß den Begriff
, Philister4 1865 polemisch in einem Konflikt mit dem Heidelberger Theologen
Schenkel (vgl. „Der Schenkel’sche Handel in Baden“). In diesem Zusammen-
hang erklärt Strauß in seiner Schrift Der Christus des Glauben und der Jesus der
Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu: „Herr Schenkel,
sollte ich sagen, ist zu drei Viertheilen auf Seiten der Kritik, aber ein Viertheil
findet er gerathen, dem Glauben noch einzuräumen, und so ist es seinen An-
hängern, überhaupt dem aufgeklärten Mittelschlag (dem Philister würde ich
sagen, wenn es nicht unhöflich wäre), eben recht“ (Strauß 1865a, 238-239).
Dieses Zitat findet sich dort in einer „Beilage“ (ebd., 224-240) mit dem Titel
„Der Schenkel’sche Handel in Baden“ („Verbesserter Abdruck“ der National-
Zeitung vom 21. September 1864).
N. schließt mit seinem Begriff des ,Philisters4 an Schopenhauer an, der die
Begriffe ,Philister4 und ,Philisterei4 in seinen Schriften wiederholt polemisch
verwendet. In den Aphorismen zur Lebensweisheit, die im Rahmen der Parerga
und Paralipomena I erschienen sind, gibt Schopenhauer die folgende Defini-
tion: „Inzwischen will ich hier doch nicht unerwähnt lassen, daß der Mensch,
welcher, in Folge des streng und knapp normalen Maaßes seiner intellektuel-
len Kräfte, keine geistige[n] Bedürfnisse hat, es eigentlich ist, den
ein der deutschen Sprache ausschließlich eigener, vom Studentenleben ausge-
gangener, nachmals aber in einem höheren, wiewohl dem ursprünglichen,
durch den Gegensatz zum Musensohne, immer noch analogen Sinne gebrauch-
ter Ausdruck als den Philister bezeichnet. Dieser nämlich ist und bleibt der
apovooq avpp“ (PP I, Hü 364 [die griechischen Wörter tragen hier keine Akzen-
te]). Dass N. direkt an diese Bemerkung Schopenhauers anschließt, zeigt ein
nachgelassenes Notat aus dem Vorfeld der Entstehungszeit von UB I DS. Hier
greift N. auf Schopenhauers Kennzeichnung des Philisters als apovooq avpp
zurück: „Der P h i 1 i s t e r ist ja gerade der apovooq: es ist merkwürdig zu sehen,
wie er trotzdem dazu kommt, in aesthetischen und Kulturfragen mitreden
zu wollen“ (NL 1873, 27 [56], KSA 7, 603).
 
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