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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0118
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92 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

N.s Freund Erwin Rohde bezieht den Philisterbegriff auf den Gelehrtenty-
pus, wenn er N. am 11. Dezember 1870 in einem Brief mitteilt: „In solchen
Professorengesellschaften [...] herrscht doch wahrlich ein gar zu traurig ge-
wöhnlicher Ton: Politik, Klatsch, Bücherbekritteln [...] Im Grunde erstaune
ich noch fortwährend über dieses gelehrten Philisterthums gespreizte Nichtig-
keit“ (KGB II2, Nr. 138, S. 280). Hier sind in der kritischen Grundtendenz auch
Affinitäten zu N.s Vorstellung des ,Bildungsphilisters4 in UB I DS zu erkennen:
„Er fühlt sich, bei diesem Mangel jeder Selbsterkenntniss, fest überzeugt, dass
seine ,Bildung4 gerade der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur sei“,
ja er glaubt sogar selbst „der würdige Vertreter der jetzigen deutschen Kultur
zu sein und macht dem entsprechend seine Forderungen und Ansprüche“ (165,
18-26).
Die Vorstellung der Bildungsbeflissenheit kann durchaus auch zum älteren
Begriff des Philisters gehören, der allerdings eher auf den Typus eines konser-
vativen Biedermanns zielt. Doch die romantische Verwendung des Begriffs
weist teilweise auf den für die Gründerzeit typischen fortschrittsoptimistischen
liberalen Bürger voraus, den N. als „Bildungsphilister“ bezeichnet. Willibald
Alexis publizierte nach dem Vorabdruck eines Teils aus Eichendorffs Drama
Krieg den Philistern. Dramatisches Mährchen in fünf Abentheuern, das um 1820
entstand und 1824 als Buch erschien, die folgende Besprechung im literari-
schen Conversations-Blatt4 (Leipzig, 24.4.1823): „Aber die Perle des ersten
Quartals ist das eben so charakteristische, als witzige und von wahrer Poesie
zeugende, dramatische Mährchen des Freiherrn von Eichendorff, Krieg den Phi-
listern, betitelt. [...] Kaum wissen wir, ob wir den Scenen im eigentlichen Lande
der Philister oder auf dem im Sande segelnden Schiffe der Poetischen den Vor-
zug geben sollen. [...] Daß der Dichter die liberalen Ideen, welche das Schiff
regieren, anfeindet, darf, da es vom Standpunkte der Poesie aus geschieht, ihm
Niemand verargen. Er schont indessen Niemanden, wie es dem echten Humor
geziemt, und wenn er den einen Philister sagen läßt: ,Nichts geht doch über
einen wohlgenährten, feisten Staat, der breit und fest auf den Beinen steht. An
den mag der Zeitgeist rütteln und stoßen, er kriegt ihn nicht von der Stelle!4
so dürften auch die Liberalen versöhnt sein. [...] Das Ganze erinnert an die
trefflichsten Scenen aus Tieck’s verkehrter Welt und dem Zerbino“.
Die Vorstellung vom ,Philister4 bildet für N. eine geeignete Kontrastfolie,
vor der er sein Selbstbild als Genie konstituieren kann, und zwar im Anschluss
an die schon im Sturm und Drang verbreitete Antithese von ,Genie4 und ,Ge-
lehrtem4. In den von N. selbst publizierten Werken kommt der Begriff ,Bil-
dungsphilister4 nach UB I DS noch fünfmal vor, davon dreimal in den zeitlich
unmittelbar folgenden Schriften: UB II HL (KSA 1, 326, 13-14) und UB III SE
(KSA 1, 352, 27; 401, 24-25). Zweimal verwendet N. den Begriff ,Bildungsphilis-
 
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