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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0125
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Stellenkommentar UB I DS 2, KSA 1, S. 168 99

erwähnt (168, 33) und „den Begriff des Epigonen-Zeitalters“ zum Thema macht
(169, 15-16), spielt er auf die Phase des Biedermeier in der Restaurationszeit
nach dem Wiener Kongress von 1815 an, in der sich die Bürger infolge be-
schränkter politischer Wirkungsmöglichkeiten zusehends in private Refugien
zurückzogen und Idyllen kultivierten. Mit dem „Begriff des Epigonen-Zeital-
ters“ ist die kulturelle Krisensituation seit den 1830er Jahren gemeint, die in
der Literatur von Autoren wie Immermann, Keller und Stifter reflektiert wurde.
Vgl. NK 168, 32 - 169, 5. Während N. die Problematik der Epigonalität im Kon-
text des Historismus kritisch reflektiert, lässt er in seinen Aphorismen später
selbst Affinitäten zu den experimentellen Gedankenspielen und polyperspek-
tivischen Ansätzen der Frühromantiker sowie zu ihrer Kunst aphoristischer
Pointierung erkennen. Auch N.s Konzept des Perspektivismus weist Analogien
zu romantischen Denkweisen auf.
168, 23-25 das Gebräu phantastischer und sprachverrenkender Philosophien
und schwärmerisch-zweckbewusster Geschichtsbetrachtung] In einem nachge-
lassenen Entwurf zu UB I DS ist vom „wilden Gebräu von Philosophie, Roman-
tik und Experimentiren aller Art“ die Rede (NL 1873, TI [55], KSA 7, 603). Vgl.
dazu auch NK 168, 18-22. - Im vorliegenden Kontext von UB I DS spielt N. auf
Schriften Schellings sowie auf den Idealismus und die teleologische Ge-
schichtsphilosophie Hegels an. Außer dem idealistischen Vernunftkonzept und
Geschichtsoptimismus Hegels attackiert N. auch seine sprachlichen Eigentüm-
lichkeiten. In UB I DS sieht N. David Friedrich Strauß „zu Hegel und Schleier-
macher in ,schlechthiniger Abhängigkeit“4 (191, 14-15). Im Hinblick auf Strauß
erklärt er sogar: „Wer einmal an der Hegelei und Schleiermacherei erkrankte,
wird nie wieder ganz curirt“ (191, 20-22). - Bereits in einem Nachlass-Notat
betont N. die „furchtbare Dilapidation der Hegelei! Auch wer sich zu retten
verstand, wie Strauß, ist nie wieder völlig zu kuriren“ (NL 1873, TI [30], KSA 7,
595). Laut N. zeigt sich die Wirkung Hegels bei Strauß auch in einer „platt
optimistischen Weltbetrachtung mit dem preußischen Staate als Zielpunkt der
Weltgeschichte“ (ebd.).
Mit seiner Aversion gegen die nachkantischen Idealisten schließt N. an
Schopenhauer an, der in der Welt als Wille und Vorstellung, aber auch in den
Parerga und Paralipomena, wiederholt vehemente Attacken vor allem gegen
Hegel, aber auch gegen Fichte, Schelling und Schleiermacher richtet. Der Be-
griff ,Hegelei4, den N. sowohl in UB I DS (191, 21) als auch in UB III SE (KSA 1,
423, 26) verwendet, findet sich bereits im Werk Schopenhauers oftmals in pole-
mischem Kontext, etwa in seiner (im Rahmen der Parerga und Paralipomena I
publizierten) Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie (vgl. PP I, Hü 156,157,177,
178, 205). In UB III SE greift N. auf dieses Werk Schopenhauers zweimal explizit
 
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