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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0126
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100 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

und an vielen Stellen auch implizit zurück. Einen ausführlichen Vergleich beider
Werke bietet der Überblickskommentar zu UBIII SE in Kapitel III.4.
168, 25-27 den Carneval aller Götter und Mythen, den die Romantiker zusam-
menbrachten] Für das historisch weit ausgreifende mythologische Interesse der
Romantiker können Friedrich Schlegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
und Georg Friedrich Creuzer als repräsentativ gelten.
168, 32 - 169, 5 Sein Auge erschloss sich für das Philisterglück: aus alle dem
wilden Experimentiren rettete er sich in’s Idyllische und setzte dem unruhig
schaffenden Trieb des Künstlers ein gewisses Behagen entgegen, ein Behagen an
der eigenen Enge, der eigenen Ungestörtheit, ja an der eigenen Beschränktheit.
Sein langgestreckter Finger wies, ohne jede unnütze Verschämtheit auf alle ver-
borgenen und heimlichen Winkel seines Lebens, auf die vielen rührenden und
naiven Freuden] Hier exponiert N. ein dialektisches Muster der Kulturbewe-
gung, das zur damaligen Zeit bereits verbreitet war: Nach diesem Schema folgt
auf die suchende, schwärmende und experimentierende Geisteshaltung der
Romantik in der anschließenden Restaurationszeit von 1815 bis 1848, als die
Chance der Bürger auf politische Einflussnahme stark reduziert war, ein bie-
dermeierlicher Rückzug in das „Behagen“ an der „eigenen Enge“ und der „ei-
genen Beschränkung“, mithin eine Art von Eskapismus ins „Idyllische“ und in
den „Winkel“. Die Vorstellung einer spezifisch philiströsen „Behaglichkeit“ er-
hält im weiteren Verlauf von UB I DS geradezu leitmotivische Bedeutung.
In einer bekannten Formulierung seiner Vorschule der Ästhetik hatte Jean
Paul, den N. in Menschliches, Allzumenschliches II zu Unrecht als „Verhängniss
im Schlafrock“ verspottete (KSA 2, 597, 5), „die Idylle“ als „epische Darstellung
des Vollglücks in der Beschränkung“ definiert (Jean Paul: Sämtliche Werke,
1995, Abteilung I, Bd. 5, 258). N. betrachtet die Präferenz für das „Idyllische“
als ein zentrales Charakteristikum der Biedermeier-Zeit, der er eine Vorliebe für
familiäre „Heimlichkeit“ und die ,Stuben4-Atmosphäre (169, 9-11) zuordnet,
wie sie beispielsweise die populären Holzschnitte Ludwig Richters, die idylli-
schen Inszenierungen auf Gemälden Carl Spitzwegs und darüber hinaus auch
zahlreiche literarische Werke repräsentierten. (Das sogenannte , Richteralbum4
galt damals als selbstverständlicher Bestandteil des bürgerlichen Bücher-
schranks.) Das von N. diagnostizierte „Philisterglück“ ist vor diesem kulturhis-
torischen Horizont zu sehen.
169,11-12 Mit solchen Bilderbüchern der Wirklichkeit in den Händen] Indem N.
diese Metaphorik für die Beschreibung der banalen Behaglichkeitsbedürfnisse
der Philister verwendet, nimmt er zugleich auch auf die Hochkonjunktur von
Bilderbüchern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Bezug.
 
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