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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0135
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Stellenkommentar UB I DS 2, KSA 1, S. 171-172 109

plaudert habe (171, 24-29). Dass N. die Hölderlin-Rede Vischers für proble-
matisch hält, zeigt bereits sein kritischer Hinweis: „man feierte im lauten
Philisterkreise das Andenken eines wahren und ächten Nicht-Philisters, noch
dazu eines solchen, der im allerstrengsten Sinne des Wortes an den Philistern
zu Grunde gegangen ist: das Andenken des herrlichen Hölderlin“ (171, 32 -
172, 1).
Am 1. Mai 1873 hielt Friedrich Theodor Vischer eine Rede zur Enthüllung
eines Hölderlin-Denkmals in Lauffen. Den Wortlaut der Rede konnte N. in einer
Zeitschrift finden, die er auch sonst verschiedentlich heranzog: Blätter für lite-
rarische Unterhaltung. Hg. von Rudolf Gottschall, Nr. 21 (22. Mai 1873), Feuille-
ton, S. 335 (vgl. dazu Antonio Morillas-Esteban 2011e, 324). Über die Jubiläums-
feier findet sich hier der folgende Bericht, der ausführlich auf Vischers Festrede
eingeht: „Am 1. Mai wurde in Lauffen am Neckar am Geburtshause des Dichters
Hölderlin die Gedenktafel feierlich enthüllt, welche bei dem hundertjähri-
gen Jubelfeste des Dichters vor drei Jahren gestiftet wurde. Die Tafel ist aus
Zinkguß und enthält ein Medaillonbildniß des Dichters, welches nach einem
Jugendbild des damals ideal schönen Hölderlin vom Bildhauer Rau in Stuttgart
modellirt wurde. Die Festrede hielt der Sohn des Dichters Gustav Schwab, Pro-
fessor Schwab in Stuttgart, der auch Hölderlin’s Biographie herausgegeben
hat. Von den Festrednern des gemeinsamen Mittagsmahls heben wir Fr. Vi-
scher, den ausgezeichneten Aesthetiker, hervor, der, anknüpfend an die Frage,
wie sich Hölderlin wol in der Jetztzeit zurechtfinden würde, viel Treffendes
und Beherzigenswerthes sprach: ,Ich weiß nicht ob seine weiche Seele so viel
Rauhes, das an jedem Kriege ist, ob sie so viel des Verdorbenen ausgehalten
hätte, das wir nach dem Siege auf den verschiedensten Gebieten fortschreiten
sehen. Vielleicht wäre er wieder in die Trostlosigkeit zurückgesunken. Er war
eine der unbewaffneten Seelen, er war der Werther Griechenlands, ein hoff-
nungslos Verliebter; es war ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber auch
Kraft und Inhalt war in seinem Willen, und Größe, Fülle und Leben in seinem
Stil, der da und dort sogar an Aeschylus gemahnt. Nur hatte sein Geist zu
wenig vom Harten; es fehlt ihm als Waffe der Humor; er konnte es nicht ertra-
gen, daß man noch kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist. Ich möchte Sie
bitten, einen Tropfen zu weihen den tragischen Seelen, der armen Kranken,
welche am Schönen erkranken, sie sind würdig einer heiligen Scheu; denn es
ist nicht immer Willenskraft, sondern meist Schwachheit, was uns über die von
den tragischen Seelen so tiefgefühlte Sehnsucht hinüberbringt.“4
N. zitiert im Folgenden (172, 8-20) eine Passage aus dieser sentimental-
nostalgischen Hölderlin-Rede Vischers, die auch die pointierte Charakterisie-
rung Hölderlins als „Werther Griechenlands“ enthält. Dabei hebt er durch Sper-
rung den Satz hervor: „er konnte es nicht ertragen, dass man noch
 
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