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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0136
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110 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

kein Barbar ist, wenn man ein Philister ist“ (172, 18-20). Und Vi-
schers Aussage kommentiert er anschließend so: „Dieses letzte Bekenntniss,
nicht die süssliche Beileidsbezeigung des Tischredners geht uns etwas an. Ja,
man giebt zu, Philister zu sein, aber Barbar! Um keinen Preis. Der arme Hölder-
lin hat leider nicht so fein unterscheiden können“ (172, 20-24).
Bereits zwölf Jahre vor der Publikation von UB I DS schreibt N. am 19. Okto-
ber 1861 in einem Schulaufsatz über Hölderlin: „Endlich ist noch eine ganze
Reihe von Gedichten bemerkenswert!!, in denen er den Deutschen bittre Wahr-
heiten sagt, die leider nur oft allzu begründet sind. Auch im Hyperion schleu-
dert er scharfe und schneidende Worte gegen das deutsche ,Barbarenthum‘.
Dennoch ist dieser Abscheu vor der Wirklichkeit mit der größten Vaterlandslie-
be vereinbar, die Hölderlin auch wirklich in hohem Grade besaß. Aber er haßte
in dem Deutschen den bloßen Fachmenschen, den Philister“ (KGW12, 340).
Vgl. dazu Thomas H. Brobjer 2001, 397-412. - In einem nachgelassenen Notat
aus der Entstehungszeit von UB I DS zitiert N. aus einem Gedicht Hölderlins
(NL 1873, TJ [69], KSA 7, 608):
„Hölderlin an Deutschland:
Noch säumst und schweigst du, sinnest ein freudig Werk,
Das von Dir zeuge, sinnest ein neu G e b i 1 d,
Das einzig wie du selber, das aus
Liebe geboren und gut, wie du, sey.
Wo ist dein Delos, wo dein Olimpia,
Daß wir uns alle finden am höchsten Fest?
Doch wie erräth dein Sohn, was du den
Deinen, Unsterbliche, längst bereitest?“
Anders, als N.s Zitat suggeriert, handelt es sich dabei nicht um ein zweistrophi-
ges Gedicht Hölderlins, sondern um die letzten beiden Strophen des aus insge-
samt 15 Strophen bestehenden Gedichts Gesang des Deutschen (Hölderlin: Ge-
dichte, 1992, 224-226), aus dem N. später auch in einer Vorstufe zur Reinschrift
des Druckmanuskripts von UB III SE zitiert: „Jene Rufer nach Eleganz verdie-
nen wahrhaftig dass man sich über sie erzürne; denn sie geben eine schnell
bereite, unverschämte Antwort auf ein edles und tiefsinniges Bedenken, das der
Deutsche schon längst auf dem Herzen hat. Es klingt als ob man ihm zuriefe:
lerne tanzen - während ihm jene Sehnsucht Faustens [...] erregt ist, sich in der
Abendröthe zu baden [vgl. Faust I, V. 446: „Morgenrot“]. Hölderlin [im Gesang
des Deutschen] hat es gesagt, wie dem Deutschen zu Muthe ist ,noch säumst
und schweigst du, sinnest ein freudig Werk, das von dir zeuge, sinnest ein neu
Gebild, das, einzig wie du selber, das aus Liebe geboren und gut, wie du, sei.‘
Mit diesem Sinnen im Herzen, ist ihm freilich seine Gegenwart verleidet; er mag
es als Deutscher kaum noch unter Deutschen aushalten“ (KSA 14, 78).
 
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