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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0143
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Stellenkommentar UB I DS 3, KSA 1, S. 175-176 117

Erkenntnis erlangt hat. So erklärt er resigniert: „Habe nun, ach! Philosophie, /
Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit
heißem Bemühn. / Da steh’ ich nun, ich armer Tor, / Und bin so klug als wie
zuvor! / Heiße Magister, heiße Doktor gar, / Und ziehe schon an die zehen
Jahr’ / Herauf, herab und quer und krumm / Meine Schüler an der Nase he-
rum - / Und sehe, daß wir nichts wissen können! / Das will mir schier das
Herz verbrennen“ (V. 354-365). Der Bezug zu Goethes Faust, der seine akademi-
schen Titel „Magister“ und „Doktor“ für bedeutungslos hält, schafft einen Kon-
trast zu der selbstgefälligen Philistrosität, die N. in UB I DS an Strauß meint
kritisieren zu können. - In einen pejorativen Kontext stellt N. den Titel „Magis-
ter“ in einem nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit von UB I DS, das
sich kritisch auf Strauß bezieht: „Er sieht nirgends, wo die Probleme liegen.
[...] Er ist kein Philosoph. Er ist ohne Stilgefühl. Er ist kein Künstler. Er ist ein
M a g i s t e r. Er zeigt den magisterhaften Typus der Bildung unsrer Bourgeoisie“
(NL 1873, TI [2], KSA 7, 588). Und N. fährt fort: „Das Bekenntniß ist eine Über-
schreitung seiner Grenze: der Gelehrte ist zu Grunde gegangen, dadurch
daß er Philosoph scheinen wollte. Und doch ist nur ein magisterhaftes Wesen
von Weltanschauung, unfrei, ärmlich, bornirt, entstanden. [...] Er ist ein
schlechter Stilist und ein unbedeutender Autor, dazu nicht auf seinem Felde.
Übrigens ein Greis“ (NL 1873, TI [2], KSA 7, 588).
176, 6-8 „Die Zeit scheint mir noch nicht gekommen [...]. Es fällt mir nicht ein-
mal ein, irgend eine Kirche zerstören zu wollen.“] Hier zitiert N. aus ANG 8, greift
dabei allerdings in umgekehrter Reihenfolge auf Strauß’ Aussagen zurück: „Es
fällt uns nicht ein, irgend eine Kirche zerstören zu wollen, da wir wissen, dass
für Unzählige eine Kirche noch ein Bedürfnis ist. Für eine Neubildung aber
(nicht einer Kirche, sondern nach deren endlichem Zerfall einer neuen Organi-
sirung der idealen Elemente im Völkerleben) scheint uns die Zeit noch nicht
gekommen.“
176, 11-14 Dort wissen Sie ja, dass Ihre neue Strasse „einzig die Weltstrasse
der Zukunft ist, die nur stellenweise vollends fertig gemacht und hauptsächlich
allgemeiner befahren zu werden braucht, um auch bequem und angenehm zu
werden.“] Schon in früheren Textpartien (vgl. 175, 24 und 176, 3) hat N. in
UB I DS die Formulierung „Weltstrasse der Zukunft“ aus Strauß’ ANG 368, 3
zitiert. Im größeren Kontext gestaltet Strauß seine Straßenmetaphorik mit un-
freiwillig komischer Pedanterie detailliert aus, wenn er in ANG 367, 8 - 368, 6
schreibt:
„Weder auf einer alten ausgefahrenen Straße, der wir den Kirchenglauben, noch auf einer
neuen frischbeschlagenen, der wir die modern-wissenschaftliche Weltansicht vergleichen
können, fährt es sich ja angenehm. Dort versinkt man alle Augenblicke in tiefeingefallene
 
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