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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0155
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Stellenkommentar UB I DS 4, KSA 1, S. 182-183 129

Klötzen und Götzen, unter dem Missstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer
Theologen zu Grunde ging [...]? Und was empfindet ihr bei Winckelmann’s Ange-
denken [...]? Ihr dürftet gar Schillers Namen nennen, ohne zu erröthen? [...] Bei
keinem Lebenswerk eurer grossen Genien habt ihr mitgeholfen [...]: trotz euch
schufen sie ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe, und Dank euch
sanken sie zu früh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kämpfen gebrochen oder
betäubt, dahin.] Diese Textpassage ist eine stilistisch modifizierte Variante zu
einer Partie im vierten Vortrag aus N.s Vortragszyklus Ueber die Zukunft unserer
Bildungsanstalten (vgl. KSA 1, 724, 22 - 725, 15). - Bereits in nachgelassenen
Notaten aus der Entstehungszeit von UB I DS geht N. in analogem Sinne auf
Lessing ein: „Es soll euch durchaus nicht erlaubt sein, Lessing zu glorificiren,
da ihr doch nur euch meint. Davon daß dieses herrliche Wesen unter euch
stumpfen Gesellen zu Grunde gieng, habt ihr keine Ahnung. Daß er sich in den
verschiedensten Gebieten herumwarf, ist kein Glück, dafür hat er in nichts es
zu wahrer Größe gebracht“ (NL 1873, ZI [9], KSA 7, 590). Einen anderen Akzent
setzt N. allerdings, wenn er „Lessing“ durch die „Kraft eines jugendlichen Ti-
gers“ charakterisiert (NL 1873, TI [35], KSA 7, 597).
Mit dem Wortspiel „Klötzen und Götzen“ nimmt N. auf folgenreiche Kon-
troversen in der Biographie Gotthold Ephraim Lessings Bezug. Gegen den Phi-
lologen Christian Adolf Klotz (1738-1771), der Rhetorik-Professor in Halle war,
polemisierte Lessing in seinen Antiquarischen Briefen, gegen die Klotz mit Zeit-
schriftenartikeln zu Felde zog. - Im Falle Goezes war die Auseinandersetzung
für Lessing besonders gravierend: Der Hamburger Hauptpastor Johann Melchi-
or Goeze (1717-1786) wurde beim Streit um die sogenannten ,Reimarus-Frag-
mente‘ zu Lessings Hauptgegner. Deren Verfasser war der Gymnasiallehrer,
Orientalist und deistisch ausgerichtete Popularphilosoph Hermann Samuel
Reimarus (1694-1768), der eine auf Vernunft gegründete ,natürliche4 Religion
propagierte, in diesem Sinne eine entschiedene Bibel- und Kirchenkritik be-
trieb und dadurch die Grundlagen der christlichen Offenbarungsreligion in
Frage stellte.
Lessing publizierte unter dem Titel Fragmente eines Wolfenbüttelschen Un-
genannten (1774-1777) sukzessive Teile aus Reimarus’ nachgelassener Apologie
oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes und geriet infolgedessen
in eine vehemente Kontroverse mit orthodoxen Protestanten. Gemeinsam mit
anderen orthodoxen Lutheranern erwirkte Goeze 1778 die Konfiszierung dieser
,Reimarus-Fragmente‘ und ein Schreibverbot für Lessing, der sich gegen Goe-
zes Attacken bereits mit seinem Anti-Goeze, einer Serie von elf theologischen
Streitschriften, zur Wehr gesetzt hatte. Da Goeze durch seine Intervention die
Publikation der zwölften Streitschrift zu verhindern vermochte, schrieb Lessing
seine Ideen 1779 seinem Drama Nathan der Weise ein. Infolge des sogenannten
 
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