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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0170
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144 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

dumm. Er hat gar nicht begriffen, worum es sich handelt“ (NL 1873, TJ [41],
KSA 7, 599).
N. spielt hier auf Grundkonzepte von Kants Kritik der reinen Vernunft (1781)
an, etwa auf die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, und unter-
streicht die fundamentale Bedeutung der Kantischen Philosophie im dritten
Satz. Zugleich betont er Strauß’ Naivität, indem er ihm jedwede Kenntnis der
Kantischen Transzendentalphilosophie und der aus ihr resultierenden notwen-
digen Skepsis gegenüber traditioneller metaphysischer Erkenntnis abspricht.
Im Fokus stehen dabei insbesondere die Reflexionen in der „Transzendentalen
Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft, mit denen Kant den metaphysischen
Erkenntnisoptimismus als unhaltbar erweist. Seinen Überlegungen zufolge
führen die metaphysischen ,Beweise4 für die Existenz Gottes, die Unsterblich-
keit der Seele und die Ewigkeit der Welt in unauflösliche Antinomien der Ver-
nunft. Als Gegenstände möglicher Erkenntnis kommen diese Gedankeninhalte
nach Kant daher nicht in Betracht, allenfalls als regulative Ideen der Vernunft.
Indem N. seinem Gegner David Friedrich Strauß Ahnungslosigkeit, mithin
philosophische Inkompetenz vorwirft, wendet er sich energisch gegen den le-
geren Gestus, mit dem sich Strauß durch affirmative Zitate oder durch ironi-
sche Subversion auf Kant bezieht und dabei mitunter in den Gestus einer an-
maßenden Jovialität gerät, etwa in dem trivialisierenden Vergleich, „dass
Schiller aus Kant wie aus einer Kaltwasseranstalt herausgetreten sei“ (181, 25-
26). Vgl. dazu NK181, 25-26. Vgl. außerdem NK190, 15-23. Anstoß nimmt N.
sowohl an ignoranter Kant-Kritik als auch am Übermaß „naiver Lobreden“ auf
Kant (190, 13-14) in Strauß’ Schrift ANG. - Mit der Kantischen Philosophie be-
schäftigte sich in N.s privatem Umfeld insbesondere Heinrich Romundt, ein
Studienfreund der Leipziger Jahre, der während der Entstehungszeit von
UB I DS in Basel in unmittelbarer Nähe N.s wohnte. Romundt war kurzzeitig
auch als Privatdozent für Philosophie an der Universität Basel tätig, hielt dort
im Sommersemester 1873 eine Vorlesung zu Kants Kritik der reinen Vernunft
und gewann später Renommee als Kant-Spezialist. Zu diesen biographischen
Zusammenhängen vgl. Curt Paul Janz 1997,178. Romundt war für N. „ein wich-
tiger philosophischer Gesprächspartner der Basler Jahre“; erhalten sind 56
Briefe von Romundt an N. (Renate Müller-Buck, NH 2000, 172). Zu N.s Kritik
an den problematischen Kant-Reminiszenzen in Strauß’ ANG vgl. die ausführli-
chen Darlegungen in NK 191, 8-11 (mit Rekurs auch auf Schopenhauers Kant-
Gefolgschaft und Hegel-Aversion). Vgl. außerdem NK 191, 25 - 192, 3.
191, 8-11 Es ist aber wahr, dass es Leuten in gewissen Lebensaltern unmöglich
ist, Kant zu verstehen, besonders wenn man in der Jugend, wie Strauss, den „Rie-
sengeist“ Hegel verstanden hat oder verstanden zu haben wähnt] Hier spielt N.
darauf an, dass David Friedrich Strauß Hegelianer war. An späterer Stelle von
 
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