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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0183
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Stellenkommentar UB I DS 7, KSA 1, S. 193-194 157

So bleibt auch der von Strauß propagierte Darwinismus nach N.s Ansicht
ein bloßes Lippenbekenntnis, weil er aus ihm nicht die Konsequenz „einer äch-
ten und ernst durchgeführten Darwinistischen Ethik“ ziehe, um die „Philister“
nicht zu brüskieren (195, 4-6). Detaillierter dazu vgl. NK 195, 4. Schon in einem
nachgelassenen Notat aus der Entstehungszeit von UB I DS zieht N. ironisch
die Couragiertheit von Strauß’ Konzepten in Zweifel: „Welcher Muth, sich zum
Darwinismus zu bekennen, zu sagen ,nicht Christen4, aber in allen wirklichen
Lebensernstfragen scheu auf die dürftigste Bequemlichkeit zurückzufallen!“
(NL 1873, TI [17], KSA 7, 591). In einem weiteren Nachlass-Notat aus derselben
Zeitphase reflektiert N. die Problematik von Schein und Sein bei Strauß so:
Sein „Ethos zeigt Muth, soweit es dem Philister wohlthut, also in Religionssa-
chen, in naturwissenschaftlichen Behauptungen usw. Sonst, nämlich in der
Lehre vom Leben, gilt umgekehrt alles Vorhandene so ziemlich als vernünftig
[...]“ (NL 1873, TI [32], KSA 7, 596). Dass N. hier implizit auf Strauß’ Hegelianis-
mus anspielt, ergibt sich aus seiner früheren Bezugnahme auf Hegels These
von der „Vernünftigkeit alles Wirklichen“ (170, 3-4), die N. allerdings missver-
steht, wenn er sie als banale Formel für die Apotheose des Alltäglichen in einer
philiströsen Gesellschaft desavouiert. Vgl. dazu NK 170, 3-4 und NK 196, 34 -
197, 11.
194,16-18 selbst das Schattenbild der Thaten, die Ethik, zeigt, dass er ein Held
der Worte ist] Zu dem bloßen Pseudo-Heroismus, den N. bei David Friedrich
Strauß meint diagnostizieren zu können, und zu seinem vorgeblichen „Muth“,
den N. allerdings auf „natürliche Feigheit“ hin transparent zu machen versucht
(194, 6-8), vgl. NK 194, 2-4. - Mit dem Begriff,Schattenbild4 spielt N. auf das
berühmte ,Höhlengleichnis4 im 7. Buch von Platons Politeia (514 a - 519 d) an,
um Strauß’ ethische Konzepte kritisch zu hinterfragen. In UB III SE bezieht sich
N. mehrmals implizit auf das Platonische Höhlengleichnis (vgl. z. B. KSA 1, 356,
12-15). - Nach der Lehre Platons sind Ideen die vollkommenen, unvergängli-
chen Urbilder alles Seienden. Für deren Abbilder hält er die sinnlich erfahrba-
ren Einzelphänomene in der Realität. In der Politeia (514 a - 519 d) entfaltet
Platon das ,Höhlengleichnis4 als symbolisches Konzentrat seiner Ideenlehre:
Den ontologisch nur sekundären Abbildstatus der realen Welt in Relation zur
essentiellen Ideenwelt analogisiert er mit den bloßen Schatten der Außenwelt-
Objekte, die Höhlenbewohner auf den Innenwänden ihrer Höhle wahrnehmen.
Weil sie keine Welt außerhalb der Höhle kennen, halten sie die Schattenbilder
irrtümlich für die eigentliche Realität und verkennen damit, dass diese als bloßer
Reflex der Wirklichkeit durch eine Lichtquelle außerhalb der Höhle entstehen.
Mit dem ,Höhlengleichnis4 veranschaulicht Platon die fundamentale Differenz
zwischen philosophischer Erkenntnis und einem naiven vorphilosophischen
Weltbild.
 
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