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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0195
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Stellenkommentar UB I DS 7, KSA 1, S. 197-198 169

Im zweiten Teil seiner Aussage kontrastiert David Friedrich Strauß das Les-
sing-Zitat mit dem metaphysischen Pessimismus Schopenhauers. Dabei zitiert
Strauß aus einer Passage der Parerga und Paralipomena II, in der sich Schopen-
hauer kritisch mit dem Pantheismus auseinandersetzt: „Gegen den Pantheis-
mus habe ich hauptsächlich nur Dieses, daß er nichts besagt. Die Welt Gott
nennen heißt nicht sie erklären, sondern nur die Sprache mit einem überflüssi-
gen Synonym des Wortes Welt bereichern. [...] Man ist nämlich nicht unbefan-
gen von der Welt, als dem zu Erklärenden, ausgegangen, sondern von Gott als
dem Gegebenen: nachdem man aber bald mit diesem nicht mehr wußte wohin,
da hat die Welt seine Rolle übernehmen sollen. Dies ist der Ursprung des Pan-
theismus. Denn von vorne herein und unbefangenerweise diese Welt für einen
Gott anzusehn, wird Keinem einfallen. Es müßte ja offenbar ein übel berathe-
ner Gott seyn, der sich keinen bessern Spaaß zu machen verstände, als sich in
eine Welt, wie die vorliegende, zu verwandeln, in so eine hungrige Welt, um
daselbst in Gestalt zahlloser Millionen lebender, aber geängstigter und gequäl-
ter Wesen, die sämmtlich nur dadurch eine Weile bestehn, daß eines das andre
auffrißt, Jammer, Noth und Tod, ohne Maaß und Ziel zu erdulden“ (PP II,
Kap. 4, § 69, Hü 106).
Den Theismus hält Schopenhauer zwar für „unerwiesen“, aber nicht für
„absurd. Denn daß ein allmächtiges und dabei allweises Wesen eine gequälte
Welt schaffe, läßt sich immer noch denken [...]. Aber bei der Annahme des
Pantheismus ist der schaffende Gott selbst der endlos Gequälte und, auf dieser
kleinen Erde allein, in jeder Sekunde ein Mal Sterbende, und solches ist er aus
freien Stücken: das ist absurd. Viel richtiger wäre es die Welt mit dem Teufel
zu identificiren“ (PP II, Kap. 4, § 69, Hü 107). - Bezeichnenderweise steht die
von N. nach Strauß’ ANG zitierte „grobe Schopenhauer’sche Rede von dem
übelberathenen Gott, der nichts besseres zu thun gewusst, als in diese elende
Welt einzugehen“, bei Schopenhauer im Kontext einer hypothetischen Reflexi-
on und damit im Konjunktiv. Indem Strauß die Aussage Schopenhauers im
Indikativ referiert, verfälscht er sie - und erleichtert sich selbst damit die Pole-
mik gegen Schopenhauers Überlegung.
198, 24-27 Wäre dann nicht vielmehr unsere Welt, wie das Lichtenberg einmal
ausgedrückt hat, das Werk eines untergeordneten Wesens, das die Sache noch
nicht recht verstand, also ein Versuch? ein Probestück, an dem noch gearbeitet
wird?] N. bezieht sich hier mit wörtlichen Zitaten und Paraphrasen auf die fol-
gende Textpassage aus Georg Christoph Lichtenbergs Vermischten Schriften.
Neue Original-Ausgabe (1867, Bd. 1, 90), die er in seiner persönlichen Bibliothek
hatte (NPB 356): „Schon vor vielen Jahren habe ich gedacht, daß unsere Welt
das Werk eines untergeordneten Wesens sein könnte, und noch kann ich von
dem Gedanken nicht zurückkommen. Es ist eine Thorheit zu glauben, es wäre
 
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