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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0200
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174 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Wenn N. in UBI DS über „das Genie“ schreibt, es stehe „mit Recht im Rufe,
Wunder zu thun“ (199, 20-22), dann deutet sich in dieser Aussage eine religiöse
Überformung des Genie-Topos an, die sich auch mit Briefstellen und nachge-
lassenen Notaten N.s belegen lässt. Einen erweiterten Begriff von Religion, der
die ästhetische Sphäre mit umfasst, propagiert N., indem er seine Vorstellung
von Religion mit einem Gestus der Selbsttranszendierung im Sinne geistesaris-
tokratisch motivierter pädagogischer Zielsetzungen verbindet: „Meine Reli-
gion, wenn ich irgendetwas noch so nennen darf, liegt in der Arbeit für die
Erzeugung des Genius; Erziehung ist alles zu Hoffende, alles Tröstende heisst
Kunst. Erziehung ist Liebe zum Erzeugten, ein Überschuss von Liebe
über die Selbstliebe hinaus. Religion ist,Lieben über uns hinaus4. Das
Kunstwerk ist das Abbild einer solchen Liebe über sich hi-
naus und ein vol [1] kommnes“ (NL 1875, 5 [22], KSA 8, 46). Vor dem Hin-
tergrund kulturgeschichtlicher Prozesse bezeichnet N. in einem anderen Nach-
lass-Notat aus demselben Jahr „die Kunst“ als „eine höhere Stufe der Religion,
ohne deren gemeine Grundmotive, Betteln bei den Göttern und Abkaufen von
etwas, ohne die niedrige Sucht nach Gewinn. Und so erscheint auch historisch
die Kunst am Aussterben der Religionen“ (NL 1875, 11 [20], KSA 8, 206). Indem
N. in UB III SE nachdrücklich für die „Erzeugung des Genius“ als das „Ziel aller
Cultur“ plädiert (KSA 1, 358, 12-13; vgl. auch KSA 1, 386, 19-22; 387, 3-14),
bringt er mit dem Begriff ,Genius4 zugleich die schon mit dessen Etymologie
verbundenen Transzendenz-Vorstellungen ins Spiel, die religiöse Konnota-
tionen erleichtern. Bezeichnenderweise macht Schopenhauer die Etymologie
des Begriffs ,Genius4 in der Welt als Wille und Vorstellung sogar explizit zum
Thema: Die Genese des Begriffs in der Antike erklärt er damit, dass man „von
jeher das Wirken des Genius als eine Inspiration, ja wie der Name selbst be-
zeichnet, als das Wirken eines vom Individuo selbst verschiedenen über-
menschlichen Wesens“ angesehen habe, „das nur periodisch jenes in Besitz
nimmt“ (WWV I, § 36, Hü 222).
Mit dem von Schopenhauer übernommenen Genie-Konzept verbindet der
frühe N. bereits Jahre vor der Konzeption von UB I DS den Gedanken an
Richard Wagner, der selbst ein enthusiastischer Schopenhauer-Anhänger
war. Schon in seinem ersten Brief an Wagner apostrophiert N. den verehrten
,Meister4 am 22. Mai 1869 nicht weniger als dreimal als „Genius“ (wenn auch
indirekt) und weist zugleich auf Wagners „großen Geistesbruder Arthur Scho-
penhauer“ hin, „an den ich mit gleicher Verehrung, ja religione quadam
denke“ (KSB 3, Nr. 4, S. 8). Eine Tendenz zu religiöser Überformung von Genie-
Vorstellungen manifestiert sich hier konkret in N.s Schopenhauer- und Wagner-
Apotheose. Dass ihm Richard Wagner damals geradezu als paradigmatischer Re-
präsentant von Genialität im Sinne Schopenhauers erschien, geht aus enthusias-
 
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