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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0202
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176 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Handlungen Individuen stehen, als die das Substanzielle verwirklichenden
Subjectivitäten,4 wird seine Wahrheit behalten, und auch auf dem Gebiete der
Kunst und Wissenschaft wird es nie an bauenden Königen fehlen, die einer
Masse von Kärrnern zu thun geben.“
200, 22-24 Es sind grauenhafte Voraussetzungen für jeden, der dem kommen-
den Geschlechte zu dem verhelfen möchte, was die Gegenwart nicht hat - zu
einer wahrhaft deutschen Kultur.] ,Kultur4 gehört zu den Leitbegriffen in N.s
frühen Schriften. Bereits in der Geburt der Tragödie (KSA 1,146-149) verbindet
er die Vorstellung der „Cultur“ mit dem Ideal „des deutschen Wesens“ (KSA 1,
149, 11). Nach N.s Überzeugung hängt die erhoffte Zukunft wesentlich davon
ab, „dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt“ (KSA 1, 149,
14-15). Dabei sieht N. „Cultur“ und „Mythus“ essentiell miteinander verbun-
den: „Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Natur-
kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze
Culturbewegung zur Einheit ab“ (KSA 1, 145, 19-21). Vgl. auch seine Darlegun-
gen in UB II HL. N.s Hoffnung auf eine kulturelle Zukunft entspricht der Pro-
grammatik des (von N. so genannten),Kulturreformators4 Wagner, der die kul-
turelle und nationale ,Zukunft4 ebenfalls in Opposition zur ,Gegenwart4 sah. In
UB IV WB schreibt N. über Wagner, er könne „des Glaubens an die Zukunft
nicht entrathen“, sei aber „kein Utopist“ (KSA 1, 506, 7-8). „Seine Gedanken
sind wie die jedes guten und grossen Deutschen überdeutsch und die
Sprache seiner Kunst redet nicht zu Völkern, sondern zu Menschen. / Aber zu
Menschen der Zukunft“ (KSA 1, 505, 2-6).
200, 28-33 Ihm muss zu Muthe werden, wie dem jungen Goethe zu Muthe war,
als er in die triste atheistische Halbnacht des Systeme de la nature hineinblickte:
ihm kam das Buch so grau, so kimmerisch, so tothenhaft vor, dass er Mühe hatte,
seine Gegenwart auszuhalten, dass er davor wie vor einem Gespenste schauder-
te.] N. zitiert hier aus Goethes Dichtung und Wahrheit und bezieht sich dabei
auf das 1770 erschienene Buch Le Systeme de la Nature des französischen Auf-
klärungsphilosophen Paul Henri Thiry d’Holbach (1723-1789), der ein mecha-
nistisch-deterministisches Weltbild propagierte und durch seine religionskriti-
schen und atheistischen Thesen bekannt wurde. - Im dritten Teil von Dichtung
und Wahrheit berichtet Goethe über seine Beschäftigung mit französischer Lite-
ratur während seiner Straßburger Zeit: „Verbotene, zum Feuer verdammte Bü-
cher, welche damals großen Lärm machten, übten keine Wirkung auf uns. Ich
gedenke statt aller des Systeme de la Nature, das wir aus Neugier in die Hand
nahmen. Wir begriffen nicht, wie ein solches Buch gefährlich sein könnte. Es
kam uns so grau, so cimmerisch, so totenhaft vor, daß wir Mühe hatten, seine
Gegenwart auszuhalten, daß wir davor wie vor einem Gespenste schauderten“
 
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