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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0207
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Stellenkommentar UB I DS 8, KSA 1, S. 202-203 181

1819 als „Fabrikwaare der Natur“ bezeichnet, „wie sie solche täglich zu Tausen-
den hervorbringt“ (WWVI, § 36, Hü 220). Mehr als dreißig Jahre später spricht
Schopenhauer dann auch in der Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie, die
er 1851 im Rahmen seiner Parerga und Paralipomena I publizierte, von der gro-
ßen Masse der Menschen als bloßer „Fabrikwaare der Natur [...] mit ihrem Fab-
rikzeichen auf der Stirn“ (PP I, Hü 209). Bezeichnenderweise beruft sich N. in
UB IIISE vielfach implizit und zweimal auch explizit auf Schopenhauers
Schrift Ueber die Universitäts-Philosophie (KSA 1, 413, 418). (Die zahlreichen
Affinitäten zwischen dieser Schrift Schopenhauers und N.s UB III SE beleuchtet
der ausführliche Vergleich in Kapitel III.4 „Quellen und Einzugsgebiete“ im
Überblickskommentar zu UB III SE.) Ähnlich wie später auch N. verbindet be-
reits Schopenhauer die von ihm despektierlich verwendete Fabrik-Metaphorik
mit einem entschiedenen Geistesaristokratismus. So weist er mit Nachdruck
daraufhin, „wie aristokratisch die Natur ist: sie ist es so sehr, daß auf
300 Millionen ihrer Fabrikwaare noch nicht Ein wahrhaft großer Geist kommt“
(PP I, Hü 189). In diesem Zusammenhang stellt Schopenhauer den genuinen
Philosophen, die er als seltene Heroen des Geistes betrachtet, die bloße „Fab-
rikwaare“ gegenüber (PP I, Hü 189), um schließlich sogar zu behaupten, „die
Natur“ sei „aristokratischer, als irgend ein Feudal- und Kastenwesen“ (PP I,
Hü 209-210). N. übernimmt Schopenhauers pejorative Metapher „Fabrikwaa-
re“ für eine Textpassage am Anfang von UB III SE, in der er die Auffassung
seines ,Erziehers4 referiert: „Wenn der grosse Denker die Menschen verachtet,
so verachtet er ihre Faulheit: denn ihrethalben erscheinen sie als Fabrikwaare“
(KSA 1, 338, 5-7). Vor diesem Hintergrund kritisiert N. in UB III SE die Proble-
matik von „öffentlich meinende[n] Scheinmenschen“ (KSA 1, 338, 34) und
weist zugleich auf die Chancen des Individuums zur Selbstentfaltung durch
einen inneren Emanzipationsprozess hin. Dabei betont er das „Glück“ der Au-
tonomie, das dem Menschen zuteil werden kann, wenn er selbständig seine
„Befreiung“ von den „Ketten der Meinungen und der Furcht“ vollzieht (KSA 1,
338, 15-17).
203, 1-2 Er benimmt sich, als ob das Leben für ihn nur otium sei, aber sine
dignitate] Mit dem lateinischen Begriff ,otium4 ist die Muße in einer Haltung
der Beschaulichkeit gemeint. Nach Ciceros Auffassung gehört die Muße, das
otium, das er in seinen Werken und Briefen empfiehlt, zu einer würdigen Le-
benshaltung, zur ,dignitas4. Laut Cicero soll das ,otium4 in einem harmoni-
schen Verhältnis zur Übernahme öffentlicher Verantwortung stehen. Beide Be-
griffe verbinden sich in Ciceros Ideal eines ,otium cum dignitate4. Nach Ciceros
Auffassung bildet ein an diesem Ideal orientiertes Verhalten eine wesentliche
Voraussetzung für die Wirksamkeit politischer Institutionen in der res publica.
Während ,dignitas4 der öffentlichen Sphäre zugeordnet ist, bezieht sich ,otium4
 
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