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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0212
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186 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

der natürliche fruchtbare Boden für alle weiteren Bildungsbemühungen. Denn
erst auf Grund einer strengen künstlerisch sorgfältigen sprachlichen Zucht und
Sitte erstarkt das richtige Gefühl für die Größe unserer Klassiker“ (KSA 1, 683,
24-30). Der Kontext in ZB 2 zeigt, dass N. mit seinem Plädoyer für Methoden
„der sprachlichen Selbstzucht“ letztlich darauf zielt, „Wege zu einem ästheti-
schen Urtheile“ zu ermöglichen (KSA 1, 684,15-17). Nur so wäre das „so häufig
anzutreffende Bündniß der Gelehrsamkeit mit der Barbarei des Geschmacks,
der Wissenschaft mit der Journalistik“ (KSA 1, 685, 12-14) zu vermeiden. Als
Etikett für die philiströs-banausische Zufriedenheit mit dem Status quo „der
deutschen Gebildetheit“ generiert N. im Zusammenhang mit seinen kulturkriti-
schen Diagnosen schon in ZB 2 das Kompositum „Bildungsbarbarei“ (KSA 1,
671, 28); dort meint er die „lauten Herolde des Bildungsbedürfnisses“ - entge-
gen ihrer Programmatik - als „fanatische Gegner der wahren Bildung“ entlar-
ven zu können, weil sie gerade das Spezifische „der aristokratischen Natur des
Geistes“ verkennen (KSA 1, 698, 8-12).
Bereits in der Geburt der Tragödie spezifiziert N. die kulturellen Deprava-
tionen, die er in seiner Epoche feststellt, unter Einbeziehung der zeitgenössi-
schen Schulsituation: „Während der Kritiker in Theater und Concert, der Jour-
nalist in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen
war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten Art, und
die aesthetische Kritik wurde als Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbst-
süchtigen und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt“ (KSA 1,
144, 8-14). Deutliche Kontinuitäten reichen von der Kulturkritik in N.s Erst-
lingsschrift bis zu seinen Unzeitgemässen Betrachtungen - mit jeweils spezifi-
schen Akzentsetzungen. - Das Selbstbewusstsein eines ,Unzeitgemäßen4, der
den Anspruch erhebt, durch kritische Diagnosen der zeitgenössischen Bil-
dungskultur und ihres Journalismus einer besseren Zukunft zuzuarbeiten, tritt
auch in ZB hervor: So animiert N. den Leser in der „Vorrede“ zu den Vorträgen
Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten, „mit dem Autor zusammen einen
weiten Weg anzutreten, dessen Ziele erst eine viel spätere Generation in voller
Deutlichkeit schauen wird!“ (KSA 1, 649, 26-28). Und kurz zuvor erklärt er:
„Wohl sehe ich eine Zeit kommen, in der ernste Menschen, im Dienste einer
gänzlich erneuten und gereinigten Bildung und in gemeinsamer Arbeit, auch
wieder zu Gesetzgebern der alltäglichen Erziehung - der Erziehung zu jener
neuen Bildung - werden“ (KSA 1, 648, 18-22). Einführend zu N.s Pädagogik
allgemein: Niemeyer 2002. Zu N.s Kritik am Journalismus und an der „öffentli-
chen Meinung“ vgl. NK 222, 4-13 und NK 159, 2.
205, 30 diluirt] Das lateinische Verb ,diluere‘ bedeutet: in Feuchtigkeit auflö-
sen, zergehen lassen. Als medizinisch-chemischer Terminus bezeichnet ,Diluie-
 
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