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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0221
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Stellenkommentar UB I DS 9, KSA 1, S. 213-214 195

Ernst und Achtung aufgenommen zu werden. Wir stellen dabei nicht in den
Vordergrund die schriftstellerische Virtuosität, obwohl sie von keiner der frü-
heren Schriften des Verfassers übertroffen ist. In anmuthigem Ebenmaße
schreitet die Rede fort, und gleichsam spielend handhabt sie die Kunst der
Beweisführung, wo sie kritisch gegen das Alte sich wendet, wie nicht minder
da, wo sie das Neue, das sie bringt, verführerisch zubereitet und anspruchslo-
sem wie verwöhntem Geschmacke präsentirt. Fein erdacht ist die Anordnung
eines so mannigfaltigen, ungleichartigen Stoffes, wo Alles zu berühren und
doch nichts in die Breite zu führen war; zumal die Übergänge, die von der
einen Materie zur anderen überleiten, sind kunstreich gefügt, wenn man nicht
etwa noch mehr die Geschicklichkeit bewundern will, mit der unbequeme Din-
ge bei Seite geschoben oder verschwiegen sind.“ Vgl. dazu den Quellennach-
weis von Antonio Morillas Esteban 2008c, 302-303.
214, 20-27 folgendes Wort Straussens über Voltaire [...]: „originell ist Voltaire
als Philosoph allerdings nicht, sondern in der Hauptsache Verarbeiter englischer
Forschungen: dabei erweist er sich aber durchaus als freier Meister des Stoffes,
den er mit unvergleichlicher Gewandtheit von allen Seiten zu zeigen, in alle mögli-
chen Beleuchtungen zu stellen versteht und dadurch, ohne streng methodisch zu
sein, auch den Forderungen der Gründlichkeit zu genügen weiss.“] Diese syntak-
tisch nicht einwandfreie Aussage zitiert N. aus Strauß’ Voltaire. Sechs Vorträge
(1870, 219). Im 5. Kapitel von UB I DS schreibt N. Strauß die prätentiöse
Wunschvorstellung zu, entweder als „der deutsche Voltaire“ oder als „der fran-
zösische Lessing“ zu gelten (216, 14-15) oder diese beiden bedeutenden Auto-
ren der Aufklärung sogar beide in Personalunion selbst zu repräsentieren (vgl.
216, 16-19). Einen solchen Anspruch weist N. bereits in einem nachgelassenen
Notat aus der Entstehungszeit von UB I DS zurück, indem er konstatiert: „Es
war frech von Strauß, das Leben Jesu dem deutschen Volke zu bieten als ein
Gegenstück zu dem viel größeren Renan: und gar Voltaire hätte er nicht berüh-
ren dürfen“ (NL 1873, 27 [1], KSA 7, 587).
Aufgrund seines Esprit und seiner stilistischen Brillanz gehört Voltaire
(1694-1778) zu den einflussreichsten Autoren der europäischen Epoche der
Aufklärung. In Frankreich verwendet man den Namen Voltaire mitunter sogar
als Synonym zur Epoche selbst, wenn man diese als das ,siede de Voltaire4
bezeichnet. Vor allem durch seinen sarkastischen Witz wurde Voltaire be-
rühmt. Er polemisierte gegen den Absolutismus, übte Bibel- und Religionskri-
tik und prangerte den Machtmissbrauch der katholischen Kirche an. Den meta-
physischen Optimismus, den Leibniz in seiner Theodizee vertrat und in der
These von der Welt als der ,besten aller möglichen Welten4 pointierte, führte
Voltaire 1759 mit seiner philosophischen Novelle Candide ou l’optimisme (Cand-
ide oder der Optimismus) satirisch ad absurdum. Während seines Aufenthalts
 
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