Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0235
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar UB I DS 10, KSA 1, S. 219-220 209

Der Kritiker, Schriftsteller und Herausgeber Johann Heinrich Merck (1741-
1791) war zunächst als Kriegszahlmeister und später als Kriegsrat in hessischen
Diensten in Darmstadt tätig. Als gefürchteter Kritiker verfasste er zahlreiche
Beiträge für die Allgemeine deutsche Bibliothek und den Teutschen Merkur. Ge-
meinsam mit Johann Georg Schlosser gab er ab 1772 die Frankfurter Gelehrten
Anzeigen heraus, die bis 1790 erschienen, in der Sturm-und-Drang-Zeit als
wichtiges Forum der Literaturkritik galten und von Goethe und Herder rezen-
siert wurden Außerdem publizierte Merck 1778 den Roman Geschichte des
Herrn Oheims. Nachdem Goethe aus Straßburg zurückgekehrt war, wurde er
von Merck gefördert und beeinflusst, der auch Kontakte zu Herder, Wieland
und dem Weimarer Hof pflegte. Nach schwerer Krankheit starb Merck im Jahre
1791 durch Suizid.
220, 7-11 Wenn Lichtenberg einmal sagt: „Die simple Schreibart ist schon des-
halb zu empfehlen, weil kein rechtschaffener Mann an seinen Ausdrücken küns-
telt und klügelt“, so ist deshalb die simple Manier doch noch lange nicht ein
Beweis für schriftstellerische Rechtschaffenheit.] N. zitiert hier aus Georg Chris-
toph Lichtenbergs Vermischten Schriften (1867, Bd. 1, 206), die N. in seiner per-
sönlichen Bibliothek hatte (NPB 356): „Die simple Schreibart ist schon deshalb
zu empfehlen, weil kein rechtschaffener Mann an seinen Ausdrücken künstelt
und klügelt.“ Allerdings schränkt N. dieses Bedingungsverhältnis durch seinen
eigenen Zusatz ein: Auch wenn sich die Redlichkeit eines Autors in der „simp-
le [n] Manier“ seines Stils manifestieren kann, so erlaubt diese doch keineswegs
prinzipiell Rückschlüsse auf ein entsprechendes Ethos. - In der Entstehungs-
zeit von UB I DS legte N. mehrere Nachlass-Notate zu Lichtenberg an (vgl.
NL 1873, TJ [5], KSA 7, 589 und NL 1873, TJ [12], KSA 7, 590 sowie NL 1873, TJ
[21], KSA 7, 592-593 und NL 1873, TJ [25], KSA 7, 594).
Dass N. im vorliegenden Kontext von UB I DS nicht allein auf Lichtenberg,
sondern implizit auch auf Schopenhauer rekurriert, dessen radikale Sprach-
und Stilkritik er sich insbesondere für das 12. Kapitel von UB I DS zum Vorbild
nahm, zeigt eine Aussage wenige Seiten zuvor. Hier konstatiert N.: „Strauss
scheint demnach recht wohl zu wissen, was es mit der Simplicität des
Stiles auf sich hat: sie ist immer das Merkmal des Genies gewesen, als wel-
ches allein das Vorrecht hat, sich einfach, natürlich und mit Naivetät auszu-
sprechen“ (217, 15-19). - Damit referiert N. ohne Quellenangabe eine These
Schopenhauers, der im Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und Stil“ der Parerga
und Paralipomena II „Naivetät“ und „Simplicität“ als die Kriterien betrach-
tet, nach denen sich der Wert eines Autors bemessen lässt (PP II, Kap. 23, § 283,
Hü 548, 550). Nach Schopenhauers Überzeugung ist es „ein Lob, wenn man
einen Autor naiv nennt; indem es besagt, daß er sich zeigen darf, wie er ist“;
seines Erachtens „ist Simplicität stets ein Merkmal, nicht allein der Wahrheit,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften