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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0239
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Stellenkommentar UB I DS 11, KSA 1, S. 222 213

dann seit 1848 entwickelte sich die moderne Presse zu einem einflussreichen
Medium. Vgl. den Kommentar zur Geburt der Tragödie (KSA 1, 130, 19-25) in
NK1/1, 368-371. N.s Polemik gegen das Zeitungswesen und seine Attacke auf
die Journalisten, die sich an Vorbehalten Schopenhauers orientiert, zieht sich
durch seine Frühschriften insgesamt. Mit N.s Journalisten-Schelte korrespon-
diert die Abwertung der „öffentlichen Meinung“ schon zu Beginn seiner Invek-
tive gegen Strauß in UB I DS. Zur Thematik der „öffentlichen Meinung“ in
UB I DS sowie im Kontext von N.s Frühwerk insgesamt vgl. die ausführlichen
Darlegungen in NK 159, 2. Mit seiner Aversion gegen die „Zeitungssprache“
folgt N. zugleich auch Auffassungen Richard Wagners, der - wie zuvor bereits
Schopenhauer - gegen das Eindringen journalistischer Diktion in die Literatur
polemisiert (vgl. Pestalozzi 1988,104). Wenige Seiten nach dem obigen Lemma
forciert N. seine Sprachkritik in UB I DS, indem er den Produzenten der „Zei-
tungssprache“ geradezu ein Sakrileg vorwirft: „wer sich an der deutschen Spra-
che versündigt hat, der hat das Mysterium aller unserer Deutschheit entweiht:
sie allein hat durch alle die Mischung und den Wechsel von Nationalitäten und
Sitten hindurch sich selbst und damit den deutschen Geist wie durch einen
metaphysischen Zauber gerettet. Sie allein verbürgt auch diesen Geist für die
Zukunft, falls sie nicht selbst unter den ruchlosen Händen der Gegenwart zu
Grunde geht“ (228, 27-34).
Bereits Schopenhauer wendet sich dezidiert gegen sprachliche Depravatio-
nen insbesondere durch die nachlässige Diktion von Journalisten. Im 23. Kapi-
tel der Parerga und Paralipomena II konstatiert er unter dem Titel „Ueber
Schriftstellerei und Stil“: „jeder Schriftsteller wird schlecht, sobald er irgend
des Gewinnes wegen schreibt“ (PP II, Kap. 23, § 272, Hü 532). In der Schlusspas-
sage dieses Kapitels erklärt Schopenhauer: „Die Sprachverhunzung, von Zei-
tungsschreibern ausgehend, findet bei den Gelehrten in Litteraturzeitungen
und Büchern gehorsame und bewundernde Nachfolge, statt daß sie wenigstens
durch ihr entgegengesetztes Beispiel, also durch Beibehaltung des guten und
ächten Deutsch, der Sache zu steuern suchen sollten: aber Dies thut Keiner
[...]“ (PP II, Kap. 23, § 289a, Hü 587). Anschließend attestiert Schopenhauer ins-
besondere den Deutschen im Hinblick auf die Sprache einen Mangel an Urteils-
fähigkeit, einen unreflektierten Aktualitätswahn und geistlose Imitation: Sei-
ner Auffassung zufolge glauben die Deutschen, „durch eilige Nachahmung
jeder hirnlosesten Sprachverhunzung, zu zeigen, daß sie ,auf der Höhe der
Zeit stehn4, nicht zurückgeblieben, sondern Schriftsteller nach dem neuesten
Schnitt sind“ (ebd.).
Auch in Schopenhauers sprachkritischen Materialien zu einer Abhandlung
über den argen Unfug, der in jetziger Zeit mit der deutschen Sprache getrieben
wird findet sich eine radikale Kritik am Zeitungsstil: „Mit welchem Fug und
 
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