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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0245
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Stellenkommentar UB I DS 11, KSA 1, S. 223 219

ehe Defizite in Strauß’ ANG. Vgl. auch die Belege zur Sprachkritik Schopenhau-
ers und N.s in NK 222, 4-13.
Den von Schopenhauer übernommenen Begriff „Jetztzeit“ verwendet N.
auch im 23. Kapitel der Geburt der Tragödie (KSA 1, 149, 2) sowie im zweiten,
dritten und fünften seiner nachgelassenen Vorträge Ueber die Zukunft unserer
Bildungsanstalten: Dort thematisiert er die „deutsche Kultur der Jetztzeit“
(KSA 1, 690, 1; 705, 24-25). Vgl. auch KSA 1, 691, 7. Nachdrücklich kritisiert N.
die Strategie der „Jünger der Jetztzeit“4, den „naturgemäßen philosophischen
Trieb durch die sogenannte historische Bildung4 zu paralysiren“, als „Selbst-
vernichtung der Philosophie“ (KSA 1, 742, 11-16). Auch in der vierten seiner
Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, die den Titel trägt Das Verhält-
niss der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur, wendet
sich N. im Hinblick auf die „Gebildeten“ und die „Philister“ (KSA 1, 779,
34 - 780, 2) entschieden gegen „die deutsche Cultur der Jetztzeit“ (KSA 1, 780,
7-8).
Erwin Rohde gebraucht den Begriff „Jetztzeit“ bereits am 11. Dezember
1870 in einem Brief an N. mehrfach mit polemischem Nachdruck: So attackiert
er die „immer ödere, immer frechere Jetztzeit4“ und spricht sogar von „dieser
gräßlichen Jetztzeit4“ (KGB II2, Nr. 138, S. 280-281). In N.s Brief an Carl von
Gersdorff vom 21. Juni 1871 ist vom „gierigen Treiben der Jetztzeit4“ die Rede
(KSB 3, Nr. 140, S. 203). Vor allem in der frühen Werkphase der Basler Jahre
verwendet N. den Begriff Jetztzeit4. Später findet sich dieser Begriff noch im
„Versuch einer Selbstkritik“, den N. 1886 der zweiten Auflage der Geburt der
Tragödie voranstellt. Hier richtet er eine rhetorische Frage an sich selbst:
„Aber, mein Herr, [...] Lässt sich der tiefe Hass gegen Jetztzeit4, »Wirklichkeit4
und »moderne Ideen4 weiter treiben, als es in Ihrer Artisten-Metaphysik gesche-
hen ist?“ (KSA 1, 21, 1-5).
223, 28 - 224, 24 Da finden wir die Forderung, dass von Zeit zu Zeit ein Bild
oder ein Gleichniss kommen, dass das Gleichniss aber neu sein müsse: neu und
modern ist aber für das dürftige Schreiber-Gehirn identisch In dem Bekennt-
nissbuche Straussens finden wir auch den Tribut an das moderne Gleichniss ehr-
lich ausgezahlt Auf diese Weise, nämlich hoch modern, hat sich Strauss mit
der Philister-Forderung abgefunden, dass von Zeit zu Zeit ein neues Gleichniss
auftreten müsse.] Hier wendet sich N. keineswegs generell gegen Gleichnisse
und Metaphern als Formen anschaulicher Diktion. Seine Vorbehalte betreffen
nur defizitäre Weisen gleichnishaften Sprechens, wie er sie in Strauß’ ANG di-
agnostiziert und im vorliegenden Kontext durch etliche Zitate exemplifiziert
(224, 3-22). - N. selbst zeigt sogar besondere Präferenzen für eine bildhafte,
auch an Metaphern reiche Sprache, die für ihn zum Medium eines gedankli-
chen Experimentierens wird. (Zu N.s späterer Experimental-Philosophie vgl.
 
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