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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0276
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250 David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller

Inwiefern sich mit dem Konzept der ,Unzeitgemäßheit4 eine entschiedene
Zukunftsorientierung verbindet, erhellt in UBIII SE schon aus N.s Absicht, „zu
erklären, wie wir Alle durch Schopenhauer uns gegen unsre Zeit erziehen
können - weil wir den Vortheil haben, durch ihn diese Zeit wirklich zu ken-
nen“ (KSA 1, 363, 25-27). Dass dabei gerade dem Philosophen ein Sonderstatus
zukommen soll, zeigt N.s Feststellung: „Deshalb muss der Philosoph seine Zeit
in ihrem Unterschiede gegen andre wohl abschätzen und, indem er für sich
die Gegenwart überwindet, auch in seinem Bilde, das er vom Leben giebt, die
Gegenwart überwinden“ (KSA 1, 361,10-14). Eine ,unzeitgemäße4 Betrachtung,
die in diesem Sinne alle historischen Bedingtheiten bewältigt, erscheint ihm
als eine „schwere, ja kaum lösbare Aufgabe“ (KSA 1, 361, 15). In UB III SE pos-
tuliert N. ,Unzeitgemäßheit4 als conditio sine qua non für die Erkenntnis der
Wahrheit, betont aber auch die dem unzeitgemäßen4 Philosophen durch Skep-
sis und Entmutigung drohende Gefahr, „an der Wahrheit überhaupt irre“ zu
werden (KSA 1, 360, 8). Gerade angesichts von „Constitutionsgefahren und
Zeitgefahren“ würdigt er „das Vorbildliche und Erzieherische in Schopenhau-
ers Natur“, weil dieser genau das realisiere, was die Aufgabe „des Philoso-
phen“ und „aller grossen Denker“ sei: im Hinblick auf das „Dasein [...] dessen
Werth neu fest [zu] setzen“ (KSA 1, 360, 26-30).
Die ,unzeitgemäße4 Wahrheitssuche, die N. schon in UB I DS propagiert,
verbindet er in UB III SE mit einer ethischen Zielvorstellung: Dem Philosophen
als einem zur Wertsetzung befähigten „Gesetzgeber“ (KSA 1, 360, 30-31)
spricht er insofern eine normative Funktion zu. Diese Aussagen, die N. dort
mit Blick auf das philosophische Naturell seines eigenen ,Erziehers4, „Lehrers
und Zuchtmeisters“ Schopenhauer formuliert (KSA 1, 341, 23), gelten für die
„grossen Denker“ generell; ihnen schreibt er einen singulären Status und eine
für die Kultur der Gesellschaft maßgebliche Bedeutung zu. Zu N.s eigener un-
zeitgemäßer4 Kulturkritik gehören auch Reflexionen, in denen er aus der zeit-
übergreifenden Metaperspektive der Zukunft retrospektiv ein Verdikt über die
Gegenwart formuliert. So erklärt er in UB III SE mit polemischer Pointierung:
„Es wäre also möglich, dass einem späteren Jahrhundert vielleicht gerade un-
ser Zeitalter als saeculum obscurum gälte; weil man mit seinen Product en am
eifrigsten und längsten die Öfen geheizt hätte“ (KSA 1, 364, 7-11). Vgl. dazu
NK364, 7-11 (mit Schopenhauer-Belegen, die gleichfalls aus der Sicht der
Nachwelt argumentieren). Analog zu Schopenhauer inszeniert N. einen unzeit-
gemäßen4 Habitus, indem er seine eigene Epoche aus der Zukunftsperspektive
radikal abwertet.
Dieser Gestus bestimmt auch die zeitkritisch akzentuierte Dunkelheitsme-
taphorik in einem nachgelassenen Notat aus dem Entstehungskontext von
UB I DS, das den Titel trägt: „Gegen den Schriftsteller David Strauss“. Dort er-
 
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