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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0287
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Überblickskommentar, Kapitel 11.2: Quellen 261

steht. Denn er billigt nicht nur, wie Strauß, faktisch die wesentlichen Zeitten-
denzen, sondern leitet aus seinem Modell des Weltprozesses ihre Notwendig-
keit ab“ (Salaquarda 1984, 33).
N. isoliert in seiner Attacke auf Eduard von Hartmann einige vordergründig
optimistische4 Leitvorstellungen, indem er sie aus dem übergreifenden pessi-
mistischen4 Kontext löst, um dann eine auf einen Selbstwiderspruch hinaus-
laufende unfreiwillige Parodie zu konstatieren. Eduard von Hartmann stellt in
seiner Philosophie des Unbewußten verschiedene Formen und historische Pha-
sen der Illusionsbildung dar: Seines Erachtens täuscht sich der Mensch über
die negative, mithin pessimistisch zu bewertende conditio humana und über
die Grundstruktur eines letztlich sinnlosen Geschichtsprozesses hinweg, um
das ,Leben4 dennoch als lebenswert empfinden zu können. Dabei adaptiert
Hartmann den zeitgenössischen Fortschrittsglauben, der sich bei ihm in der
Leitvorstellung eines „Weltprozesses44 niederschlägt, und die optimistische
„Bejahung des Willens zum Leben“ (316, 12-13), um trotz des prinzipiell pessi-
mistischen Gesamthorizonts in der Gegenwart weiterexistieren zu können und
mithilfe der Illusion ein Moratorium zu gewinnen. Da Hartmann die als Illusion
durchschaute optimistische Lebensbejahung mit der aktuellen Fortschritts-
ideologie verbindet, können seine Thesen allerdings den Eindruck erwecken,
er passe sich dem Zeitgeist an.
N. polemisiert im 9. Kapitel von UB II HL mit geradezu leitmotivischen Wie-
derholungen gegen Eduard von Hartmanns Präferenz für den „Weltprozess“
und den „Prozess“ überhaupt (314, 3 - 318, 10), der in der Philosophie des
Unbewußten als Konsequenz aus dem ideellen Gegensatz zwischen Realem und
Idealem, zwischen Willen und Vorstellung erscheint und auf eine universelle
Aufhebung des Wollens durch die Vorstellung zuläuft, bis laut Hartmann
schließlich die gesamte Erscheinungswelt von der leidensvollen Existenz erlöst
ist. Obwohl sich N. in UB II HL selbst entschieden zum „Leben“ als dem höch-
sten Wert bekennt und die Historie nur insofern gelten lassen will, als sie sich
zugunsten des Lebens funktionalisieren lässt, wendet er sich kritisch gegen die
Forderung einer „vollen Hingabe an das Leben“ (316, 12-14), die Hartmann
gegen Resignation, Entsagung und Verneinung im Sinne des Schopenhauer-
schen Quietismus empfiehlt, weil er meint, die „Welterlösung“ lasse sich nur
auf dem Wege einer „Hingabe der Persönlichkeit an den Weltprozess“ errei-
chen (316, 10-12).
Obwohl N. der von ihm kritisierten Anbiederung an den Zeitgeist seine
„unzeitgemäße“ Betrachtung entgegenhält, stimmt er, ohne dies einzugeste-
hen, in wesentlichen Positionen mit Eduard von Hartmann überein: Dies gilt
für die Hinwendung zur vorrationalen Sphäre des Unbewussten, für die Affini-
tät zu Schopenhauers Pessimismus und für das Postulat der Lebensbejahung,
 
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