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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0292
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266 Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben

chenden Bildungstradition situiert. So erklärt er, er sei als „Zögling älterer
Zeiten, zumal der griechischen“, zu einem solchen Werturteil befähigt (247, 4).
Dabei greift er auf ein ahistorisches Verfahren zurück, das sich trotz der mit
Herder beginnenden historistischen Gegenströmung in der deutschen Kultur-
geschichte seit Winckelmann immer wieder durchgesetzt hat: In diesem Denk-
modell werden die Griechen zu einem überzeitlichen Maßstab stilisiert, der
dann die Bewertungskriterien für spätere Zeiten bereitstellen soll. Zwar vermei-
det es N., die griechische Kultur als zeitloses Muster zu exponieren, wie es der
klassizistischen Tradition im Gefolge Winckelmanns entsprochen hätte. Vgl.
NK 1/1, 43, 57, 410. Bereits in der Geburt der Tragödie rückt er von dieser Grund-
tendenz ab. Dennoch erhält die Berufung auf die Griechen, als deren „Zögling“
er sich selbst bezeichnet, für N. eine legitimatorische Funktion, auch wenn
ihr - anders als dem klassizistischen Nachahmungspostulat - kein positiver
Sinn mehr zukommt. Vielmehr sieht N. in seiner altphilologischen Provenienz
die Ausgangsbasis für seine radikale Kritik an den Krisensymptomen der Ge-
genwart und damit für den eigenen Anspruch auf,Unzeitgemäßheit4.
Durch N.s CEuvre zieht sich allerdings das Bemühen, nicht bloß zu negie-
ren, sondern zugleich auch ein positives Konzept zu entwickeln. In diesem
Sinne stellt er der Abkehr von einer zeitgemäßen4 Vergangenheitsorientierung
in der Historienschrift als positives Ziel die Förderung des „Lebens“ entgegen.
Dieses „Leben“ hat N. bereits in der Geburt der Tragödie als „dionysisches Le-
ben“ (KSA 1,132, 11) charakterisiert. Und noch in seinen letzten Werken erhebt
er Dionysos zum mythologischen Symbol einer rauschhaft gesteigerten Lebens-
intensität (vgl. z. B. KSA 6, 79,117,160). In der Spätphase richtet sich N.s Plädo-
yer für das „Leben“ vorwiegend gegen eine lebensfeindliche Moral und gegen
ein Christentum, das aufgrund seiner Jenseitsorientierung das Diesseits ver-
achtet. In der Historienschrift gilt N.s Attacke noch nicht der Moral und Religi-
on, sondern der historisierenden Bildungskultur des 19. Jahrhunderts. Seine
Stoßrichtung ist dabei aber analog. Denn seiner Auffassung zufolge gerät der
Mensch durch die obsessive Hinwendung zur Geschichte in die Gefahr, sich
der Gegenwart und dem „Leben“ zu entfremden.
Noch unter einem anderen Aspekt möchte N. UB II HL nicht bloß im Sinne
der Negation als ,unzeitgemäß4 verstanden wissen. Bezeichnenderweise been-
det er sein Vorwort mit der Erklärung, es komme ihm darauf an, „unzeitge-
mäss - das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu
Gunsten einer kommenden Zeit - zu wirken“ (247, 9-11). Damit inszeniert N.
einen Zukunftsanspruch, der über die Kritik am Historismus seiner Gegenwart
hinausweist. In dieser Hinsicht schließt er an Richard Wagner an - ähnlich
wie zuvor bereits in GT und danach in UB IV WB.
Besonders intensiv rezipierte N. Wagners theoretische Hauptschrift Oper
und Drama, die mit großem Nachdruck eine kulturrevolutionär inspirierte Zu-
 
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