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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0295
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Überblickskommentar, Kapitel 11.3: Konzeption 269

charakteristischen Tendenz zur Pathologisierung als „historische Krank-
heit“ bezeichnet (329, 24), soll die Jugend eine wieder von gesunden, schöpfe-
rischen Energien erfüllte „Zukunft“ repräsentieren. Deshalb betont N. im
Schlusskapitel von UBII HL das Ideal der Jugend und verbindet es hier mit
emphatisch-bildhaften Seefahrtsmetaphern: „An dieser Stelle der J u g e n d ge-
denkend, rufe ich Land! Land! Genug und übergenug der leidenschaftlich su-
chenden und irrenden Fahrt auf dunklen fremden Meeren! Jetzt endlich zeigt
sich eine Küste: wie sie auch sei, an ihr muss gelandet werden, und der
schlechteste Nothhafen ist besser als wieder in die hoffnungslose skeptische
Unendlichkeit zurückzutaumeln. Halten wir nur erst das Land fest; wir werden
später schon die guten Häfen finden und den Nachkommenden die Anfahrt
erleichtern“ (324, 11-18).
Mit der Metapher einer „Fahrt auf dunklen fremden Meeren“ bringt N. die
Vorstellung einer ins Unendliche ausgreifenden Bewegung zum Ausdruck. Oft-
mals kritisiert er in seinen Frühschriften die Expansion des Wissens bis zu
einer Überfülle von positivistischen Details in allen Wissensbereichen, die
Chancen auf genuine Produktivität einschränke und Sehnsucht nach Befreiung
wecke. Was N. mit den suggestiven Bildern „Land“, „Küste“ und „Nothhafen“
konkret meint, bleibt aber letztlich offen. Ähnlich vage erscheint die Vorstel-
lung von „fremden Meeren“. Mit dem Begriff der „Jugend“ schafft N. ein Surro-
gat für die Vorstellung einer „Zukunft“, die von frischem, authentischem „Le-
ben“ erfüllt ist.
Dass sich diese Zukunftsprojektion allerdings in imperativischem Elan be-
reits zu erschöpfen scheint, erhellt daraus, dass N. von der „Küste“ sagt: „wie
sie auch sei, an ihr muss gelandet werden“ (324, 14). Mit seiner Zukunftshoff-
nung verbindet sich essentiell die Vorstellung des ,Lebens4. Indem N. die Ju-
gend und ihr schöpferisches Zukunftspotential exponiert, das er durch ein
Übermaß an Historie gefährdet sieht, scheint er nicht zuletzt sich selbst und
sein Ingenium zu meinen. Darauf lässt eine markante Aussage in der Anfangs-
passage des 10. Kapitels schließen: „Und doch vertraue ich der inspirirenden
Macht, die mir anstatt eines Genius das Fahrzeug lenkt, ich vertraue der J u -
gend, dass sie mich recht geführt habe“ (324, 30-32). Auch wenn der junge
N. die „Gefahren unseres Lebens und unserer Cultur“ von den „wüsten, zahn-
und geschmacklosen Greisen“ und den „sogenannten ,Männern4 Hartmanns“
ausgehen sieht und emphatisch erklärt: „beiden gegenüber wollen wir das
Recht unserer Jugend mit den Zähnen festhalten“ (322, 30-34), stellt er einen
impliziten autoreferentiellen Bezug her.
Im Zusammenhang mit seiner Kritik am Historismus des 19. Jahrhunderts
versucht N. seine eigenen Wunschvorstellungen paradoxerweise durch Histori-
sierung zu legitimieren. Wie andere Zeitgenossen, die am Epigonenbewusst-
 
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