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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1/2): Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen: I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: De Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0297
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Überblickskommentar, Kapitel 11.3: Konzeption 271

Tragödie gegen den in Logik und Dialektik einmündenden „philosophi-
schen Gedanken“ (KSA 1, 94, 11-13). Dessen Extremform wird laut N. vom
rationalistischen „Sokratismus“ und vom „Typus des theoretischen Men-
schen“ repräsentiert (KSA 1, 98, 9-10). Demgegenüber propagiert er selbst
den „Instinkt“, die dionysische Musik und den „Mythus“. Korreliert man die
Historienschrift mit der Tragödienschrift, so kann man den Historismus ten-
denziell als eine Variante zum Sokratismus ansehen (vgl. Margreiter 1996, 11).
Einen Höhepunkt von N.s kritischer Auseinandersetzung mit der durch ab-
strakte Begriffe bestimmten Kultur bildet die ungefähr gleichzeitig mit der His-
torienschrift entstandene Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermorali-
schen Sinne, in der er eine Fixierung auf rigide „Begriffe“ ablehnt. Laut N.
„zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre Regelmässigkeit eines römischen
Columbariums“, also einer Urnen-Begräbnisstätte (KSA 1, 882, 4-5). Im Kon-
text dieser Darstellung spricht er vom „Aufthürmen eines unendlich complicir-
ten Begriffsdomes“ (KSA 1, 882, 25-26) auf ganz instabilem Grund. (Zu dieser
Metaphorik vgl. Neymeyr 2014a, 236-247 und 2016b, 337-338.)
In der Historienschrift sieht N. das natürliche Dasein „mit Begriffen wie mit
Drachenzähnen übersäet“ (329, 3). Entschieden formuliert er seine Vorbehalte
gegen die „unlebendige und doch unheimlich regsame Begriffs- und Wort-Fab-
rik“, die seines Erachtens zu dem fatalen Ergebnis führt: „cogito, ergo sum“
statt „vivo, ergo cogito“ (329, 6-9). Mit dieser impliziten Kritik an der cartesia-
nischen Formel bewegt sich N. zunächst in den Bahnen von Schopenhauers
Polemik gegen Hegel, die sich vor allem gegen dessen Optimismus im Hinblick
auf den Erkenntniswert der Begriffe und gegen seine dialektisch auf prozessua-
le Überbietung angelegte Geschichtsphilosophie richtet. Die pessimistische
Willensmetaphysik Schopenhauers steht Hegels Konzepten diametral gegen-
über. N. erweitert seine Kritik zu einer allgemeinen kritischen Kulturdiagnose,
die ein großes Spektrum von Einzelaspekten aufweist. In diesem Zusammen-
hang erhebt er das „Leben“, die „Natur“ und die „Jugend“ zur kulturellen Ba-
sis schlechthin: „Schenkt mir erst Leben, dann will ich euch auch eine Cultur
daraus schaffen!“ (329, 13-14).
Dass sich N. an einem rousseauistisch inspirierten naturhaften Heilszu-
stand orientiert, ist allerdings nicht primär durch seine Gesellschaftskritik be-
dingt, sondern durch die Diagnose eines Zustands, den er selbst als patholo-
gisch charakterisiert. N.s eigenes Ideal von Natur, Gesundheit und Jugend
bildet den Hintergrund für sein therapeutisches Konzept. In auffälliger Weise
konzentrieren sich seine Vorstellungen auf die Diagnose einer Krankheit. Dies
gilt auch für den Spezialfall der ,,historische[n] Krankheit“: „Aber es ist krank,
dieses entfesselte Leben und muss geheilt werden. [...] Das Uebel ist furchtbar,
und trotzdem! Wenn nicht die Jugend die hellseherische Gabe der Natur hätte,
 
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