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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0319
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Überblickskommentar, Kapitel 11.4: Struktur 293

Nach einem skeptischen Seitenblick auf Modelle der Erziehung bei Platon
(327-328) betont N., „dass der Deutsche keine Cultur hat“, weil er sie im gegen-
wärtigen pädagogischen Klima „gar nicht haben kann“ (328). Als Therapeuti-
kum empfiehlt er der betroffenen Generation die schonungslose Diagnose der
Situation und eine engagierte Selbsterziehung, die schließlich „zu einer neuen
Gewohnheit“ führen (328) und authentisches Leben in sinnlicher Erfahrung
ermöglichen soll. Das cartesianische Prinzip „cogito, ergo sum“ will N. mit Ent-
schiedenheit durch ein „vivo, ergo cogito“ substituieren (329). Dieser Grund-
satz biete eine fundamentale Neuorientierung, weil er dem bloßen „cogital“
die Chance gebe, zu einem echten „animal“ zu werden (329).
Von der Jugend erhofft N. ein befreites Leben und zugleich die Heilung
von „der historischen Krankheit“ (329). Um die durch diese Krankheit
angegriffene „plastische Kraft des Lebens“ wiederherzustellen (329), bedürfe
die Jugend der „heilkräftigen Instincte“ (329). Indem N. „das Unhistori-
sche und das Ueberhistorische“als Antidot propagiert (330), schlägt
er zugleich eine Brücke zu früheren Passagen der Schrift (252-257): Unter dem
,Unhistorischen4 versteht er die Fähigkeit zum Vergessen und zur produktiven
Begrenzung des eigenen Horizonts. Mit dem ,Überhistorischen4 meint N. insbe-
sondere „das Beharrliche und Ewige“ (330) von „Kunst und Religion“, weil
diese „aeternisirenden Mächte“ (330) im Unterschied zu den historisch orien-
tierten Wissenschaften die Zeitverfallenheit des Daseins zu transzendieren ver-
mögen. Vor die Alternative gestellt, ob dem Leben oder dem Erkennen der
Primat gebühre, gibt N. dem Leben die Priorität (330-331). Die Mission einer
enthusiastisch-engagierten Jugend verbindet er mit der Zukunftsvision einer
„glücklicheren und schöneren Bildung und Menschlichkeit“ (331).
Mit pointierenden Wiederholungen wendet sich N. am Ende seiner Histori-
enschrift an die „Gesellschaft der Hoffenden“, der er als Prophet der Zukunft
„den Gang und Verlauf ihrer Heilung, ihrer Errettung von der historischen
Krankheit [...] durch ein Gleichniss“ erzählen will (332), und zwar bis zu dem
Zeitpunkt, zu dem der Gesundungsprozess so weit vorangeschritten sei, dass
es wieder möglich werde, „Historie zu treiben und sich der Vergangenheit un-
ter der Herrschaft des Lebens [...] monumental oder antiquarisch oder kritisch,
zu bedienen“ (332). In einer Imitatio Christi übernimmt N. aus den biblischen
Evangelien für sich selbst die Rolle des Heilands, der mit Gleichnissen zu sei-
nen Jüngern redet. Zugleich adaptiert er soteriologische Kernbegriffe, indem
er von „Heilung“ und „Errettung“ spricht (332). Außerdem beruft sich N. mit
prophetischem Gestus auf den „Delphische[n] Gott“ (333): Er zitiert den in der
antiken Tradition mit dem Apollon-Tempel verbundenen Spruch „Erkenne dich
selbst“ (333), bezieht Heraklits Deutung des delphischen Orakels mit ein (333)
und übernimmt sogar selbst die Funktion des Orakels, indem er „Zukunft“
weissagt (332).
 
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