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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,2): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": I. David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller, II. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69926#0327
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Überblickskommentar, Kapitel 11.6: Selbstaussagen Nietzsches 301

gende Kreis vergangner Bestrebungen verurtheilt worden ist. An ihre Stelle
muss die Wissenschaft um die Zukunft treten“ (NL 1875, 5 [158], KSA 8, 84).
Eine selbstkritische Reflexion mit anderer Akzentsetzung als in dem oben
bereits zitierten Notat, in dem N. eine eigene Entwicklungsphase rückblickend
sogar durch Ignoranz der Historie gegenüber gekennzeichnet sah, nämlich als
„Versuch die Augen zu schliessen gegen die Erkenntniss der Historie“
(NL 1878, TI [34], KSA 8, 493), formulierte er schon kurz nach der Publikation
der Historienschrift in einem Brief, den er am 19. März 1874 an Erwin Rohde
richtete. Dort hinterfragte und relativierte N. den teils forcierten kritischen Ges-
tus seiner Unzeitgemässen Betrachtungen insgesamt: „Dass ich es mit meinen
Ergüssen ziemlich dilettantisch unreif treibe, weiss ich wohl, aber es liegt mir
durchaus daran, erst einmal den ganzen polemisch-negativen Stoff in mir aus-
zustossen; ich will unverdrossen erst die ganze Tonleiter meiner Feindseligkei-
ten absingen, auf und nieder, recht greulich, ,dass das Gewölbe wiederhallt4.
Später, fünf Jahre später, schmeisse ich alle Polemik hinter mich und sinne auf
ein ,gutes Werk4. Aber jetzt ist mir die Brust ordentlich verschleimt vor lauter
Abneigung und Bedrängniss, da muss ich mich expectoriren, ziemlich oder
unziemlich, wenn nur endgültig. Elf schöne Weisen habe ich noch abzusin-
gen. -“ (KSB 4, Nr. 353, S. 210-211.) - „Elf schöne Weisen“ sind hier als meta-
phorische Paraphrase für die weiteren, von ihm damals noch geplanten Unzeit-
gemässen Betrachtungen zu verstehen; denn ursprünglich hatte N. nicht vier,
sondern dreizehn Stücke vorgesehen (vgl. NL 1873-74, 30 [38], KSA 7, 744-745
und KSB 4, Nr. 365, S. 230). Bereits 1873 notiert er für das letzte dieser geplan-
ten dreizehn Stücke den symptomatischen Titel: „Der Weg zur Freiheit.
Dreizehnte Unzeitgemässe“ (NL 1873, 29 [229], KSA 7, 722).
Angesichts des brieflichen Bekenntnisses gegenüber Rohde erscheint der
Text 179 in Menschliches, Allzumenschliches II tendenziell wie eine implizite
Revision der kritischen Epochendiagnose von UBII HL. Denn zwölf Jahre nach
dem oben zitierten Brief entfaltet N. nun positive Perspektiven auf Gegenwarts-
kultur und Zukunft, die sich von seinem Verdikt über den zeitgenössischen
Kulturoptimismus in UB II HL grundlegend unterscheiden: „Glück der
Zeit. - In zwei Beziehungen ist unsre Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht
auf die Vergangenheit geniessen wir alle Culturen und deren Hervorbrin-
gungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten [...]: während frü-
here Culturen nur sich selber zu geniessen vermochten und nicht über sich
hinaussahen“ (KSA2, 457, 11-19). Und N. fährt fort: „In Hinsicht auf die Zu-
kunft erschliesst sich uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure
Weitblick menschlich-ökonomischer, die ganze bewohnte Erde umspannender
Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewusst, diese neue Aufgabe ohne
Anmaassung selber in die Hand nehmen zu dürfen, ohne übernatürlicher Bei-
 
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