Überblickskommentar, Kapitel 11.7: Historismus-Kontext 307
Vermutlich wird das Wort,Historismus4 zum ersten Mal 1798/99 von Nova-
lis im Allgemeinen Brouillon verwendet (vgl. Scholtz 1974, Sp. 1141). Ludwig
Feuerbach gebraucht den Begriff,Historismus4 1839 mit kritischer Intention -
Jahrzehnte bevor N. in UB II HL problematische Aspekte der ,Historie4 im
19. Jahrhundert reflektiert. Feuerbach eröffnet seine Abhandlung Über das
Wunder (1839) mit der Zeitdiagnose: „Von dem leichtfüßigen Roß des Rationa-
lismus, das unsre Väter trug, sind wir auf den faulen Packesel eines stieren
Historismus und Positivismus gekommen. Was unsern Vätern noch vor weni-
gen Dezennien für Torheit galt, das gilt uns wieder für die tiefste Weisheit; was
ihnen nur Bild, nur Vorstellung war, das ist uns wieder zur Sache, zum
Faktum geworden. Frei und aufrecht war darum der Gang unsrer Väter, wäh-
rend wir, die wir die Taschen voll von historischen Fakten haben, gebückt und
gedrückt einherkeuchen [...] das Faktum drückt den Menschen zu Boden44
(Ludwig Feuerbach: Werke in sechs Bänden, 1975, Bd. 2, 218). In seiner Streit-
schrift Philosophie und Christentum in Beziehung auf den der Hegelschen Philo-
sophie gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit (1839) bezeichnet Feuerbach ei-
nen Historiker als „die personifizierte Mißgunst des Historismus gegen den
gesunden Blutstropfen der Gegenwart“ (ebd., 270). Schon diese Aussage
Feuerbachs betont das Spannungsfeld zwischen dem Historismus und den An-
sprüchen des Lebens, das dann auch die Konzeption von N.s UB II HL maßgeb-
lich bestimmt.
Bereits Jahrzehnte vor N.s Historienschrift wurde die Reflexion über das
Verhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart mit einer Kritik an Hegel ver-
bunden. Damals hatte sich Rudolf Haym in seinem Werk Hegel und seine Zeit
(1857) im Hinblick auf Hegel bereits kritisch mit dem Historismus-Problem aus-
einandergesetzt und dabei die konservative Geschichtsmetaphysik Hegels be-
anstandet (vgl. Haym 1857, 354, 467). Zum Grundtenor der Historismus-Kritik,
die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich eine besondere Prä-
senz im Diskurs der Epoche erhielt, gehören Vorbehalte gegen positivistische
Tendenzen, die zur Akkumulation unüberschaubarer Datenmengen und zur
Vernachlässigung von Gegenwartsinteressen führten. Hinzu kam wachsende
Skepsis gegenüber einer als standpunktlos und selbstzweckhaft empfundenen
historischen Ursachenforschung, die sich mit dem Eindruck zunehmender Des-
orientierung verband.
Nicht erst N. hebt in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Überfül-
le positivistischer Fakten im Historismus die Problematik eines Werterelativis-
mus hervor, der Desorientierung zur Folge hat. Einen ähnlichen Tenor lassen
noch vor N.s Historienschrift auch die kritischen Diagnosen anderer zeitgenös-
sischer Autoren erkennen. Der Schweizer Kulturhistoriker Johann Jakob Ho-
negger charakterisiert die Epochenproblematik in seinem Buch Litteratur und
Vermutlich wird das Wort,Historismus4 zum ersten Mal 1798/99 von Nova-
lis im Allgemeinen Brouillon verwendet (vgl. Scholtz 1974, Sp. 1141). Ludwig
Feuerbach gebraucht den Begriff,Historismus4 1839 mit kritischer Intention -
Jahrzehnte bevor N. in UB II HL problematische Aspekte der ,Historie4 im
19. Jahrhundert reflektiert. Feuerbach eröffnet seine Abhandlung Über das
Wunder (1839) mit der Zeitdiagnose: „Von dem leichtfüßigen Roß des Rationa-
lismus, das unsre Väter trug, sind wir auf den faulen Packesel eines stieren
Historismus und Positivismus gekommen. Was unsern Vätern noch vor weni-
gen Dezennien für Torheit galt, das gilt uns wieder für die tiefste Weisheit; was
ihnen nur Bild, nur Vorstellung war, das ist uns wieder zur Sache, zum
Faktum geworden. Frei und aufrecht war darum der Gang unsrer Väter, wäh-
rend wir, die wir die Taschen voll von historischen Fakten haben, gebückt und
gedrückt einherkeuchen [...] das Faktum drückt den Menschen zu Boden44
(Ludwig Feuerbach: Werke in sechs Bänden, 1975, Bd. 2, 218). In seiner Streit-
schrift Philosophie und Christentum in Beziehung auf den der Hegelschen Philo-
sophie gemachten Vorwurf der Unchristlichkeit (1839) bezeichnet Feuerbach ei-
nen Historiker als „die personifizierte Mißgunst des Historismus gegen den
gesunden Blutstropfen der Gegenwart“ (ebd., 270). Schon diese Aussage
Feuerbachs betont das Spannungsfeld zwischen dem Historismus und den An-
sprüchen des Lebens, das dann auch die Konzeption von N.s UB II HL maßgeb-
lich bestimmt.
Bereits Jahrzehnte vor N.s Historienschrift wurde die Reflexion über das
Verhältnis zwischen Geschichte und Gegenwart mit einer Kritik an Hegel ver-
bunden. Damals hatte sich Rudolf Haym in seinem Werk Hegel und seine Zeit
(1857) im Hinblick auf Hegel bereits kritisch mit dem Historismus-Problem aus-
einandergesetzt und dabei die konservative Geschichtsmetaphysik Hegels be-
anstandet (vgl. Haym 1857, 354, 467). Zum Grundtenor der Historismus-Kritik,
die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich eine besondere Prä-
senz im Diskurs der Epoche erhielt, gehören Vorbehalte gegen positivistische
Tendenzen, die zur Akkumulation unüberschaubarer Datenmengen und zur
Vernachlässigung von Gegenwartsinteressen führten. Hinzu kam wachsende
Skepsis gegenüber einer als standpunktlos und selbstzweckhaft empfundenen
historischen Ursachenforschung, die sich mit dem Eindruck zunehmender Des-
orientierung verband.
Nicht erst N. hebt in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Überfül-
le positivistischer Fakten im Historismus die Problematik eines Werterelativis-
mus hervor, der Desorientierung zur Folge hat. Einen ähnlichen Tenor lassen
noch vor N.s Historienschrift auch die kritischen Diagnosen anderer zeitgenös-
sischer Autoren erkennen. Der Schweizer Kulturhistoriker Johann Jakob Ho-
negger charakterisiert die Epochenproblematik in seinem Buch Litteratur und